Foto: Conférencière ohne Bodenhaftung vor holografischer Visualisierung der Musik: Sylvie Rohrer © Volker Beushausen/Ruhrtriennale 2021
Text:Andreas Falentin, am 3. September 2021
Musikalisch ist das überwältigend. Am einen Ende der Duisburger Kraftzentrale rockt die Band Jealous, am anderen die Band Steamboat Switzerland, dazu die Percussionistin und Improvisationskünstlerin Camille Emaille. An einer der langen Seiten der Halle ist das Asasello Quartett platziert. In der Mitte sitzt, auf Drehhöckerchen und mit gutem Abstand, das Publikum. Um es herum bewegen sich die Schauspielerin Sylvie Rohrer, die Sängerinnen Christina Daletska, Caroline Melzer und Sarah Pagin sowie die Vokalartistin und Sounddesignerin Catnapp. Großartige Künstlerinnen und Künstler, allesamt.
Die musikalische Struktur kann, zumindest von uns aus der Sesamstraße-Generation, als „Was-passiert-dann-Maschine“ bezeichnet werden. Immer wieder steht ein Klangpartikel am Anfang, ein Schrei, ein paar Worte, eine kleine Kaskade von Koloraturen, eine einfache Gesangslinie, ein Violinen-Glissando, ein Schlagzeug-Wummern. Diese werden erweitert, durch- und mit anderen Komponenten zusammengeführt – Sprecherin mit Vokalartistin; Sängerinnen gemeinsam und gegeneinander, auch mit Band oder Streichquartett; Bratsche und Cello plus Percussion; alle mit allen und vieles dazwischen. Abstrakte akustische Gemälde blühen auf, werden abrupt abgerissen oder verblühen wieder und aus dem Humus scheint Neues zu wachsen. Ganze Klangwelten kommunizieren miteinander. Vor allem, was im experimentellen Musiktheater heute durchaus erwähnt werden muss: Der klassisch singende Mensch steht nicht am Rand. Er ist vollwertiges Mitglied dieses heterogen strahlende Musikkosmos des Schweizer Komponisten Michael Wertmüller, der manchmal sogar von der guten alten Oper zu träumen scheint. Oder sind die vielen wilden Koloraturausflüge etwa nicht von der Königin der Nacht inspiriert? Ist das herzerweichende, leidenschaftlich ironische Terzett der drei Sängerinnen mit seinen lustvoll eingestanzten musikalischen Widerhaken kein sanftes Weiterträumen des „Rosenkavalier“-Schlussterzetts?
Hörend vergehen diese 90 Minuten wie im Flug. Weil Wertmüllers Klangfantasie unerschöpflich scheint, sich eben in seiner großen Liebe zum Detail nicht erschöpft. Und weil Thomas Wegner ein tolles Sounddesign geschaffen hat, einen Klang, der in dieser Halle lebt, durch sie hindurch tourt, ohne die Location komplett zu dominieren und auszufüllen. Man möchte, trotz extremer Lautstärken, von einer wunderbaren Leichtigkeit des Klangs sprechen. Bei der allerdings an diesem Abend Catnapp aufgrund suboptimaler Ausstrahlung ein wenig unter dem Radar sendet.
„D.I.E“ iat als Musiktheater angekündigt. Wieder stellt sich die alte Frage: Wo fängt Theater an und wo hört es auf? Braucht es Handlung? Reicht Klanginstallation? Ich würde die letzte Frage bei Aufführungen wie dieser eindeutig mit „ja“ beantworten, aber „D.I.E“ will mehr sein.
Das Werk basiert auf Bildern des Neoexpressionisten oder „Neuen Wilden“ Albert Oehlen, denen Rainald Goetz kurze, extrem fragmentierte Gedichte gegenübergestellt hat. Beides ist 2010 unter dem Titel „D.I.E abstrakte realität“ als Künstlerbuch in flugs vergriffener Auflage veröffentlicht worden. Dieses Buch dient Wertmüller als wesentliche Inspirationsquelle. Goetz‘ Wörter und Satzfetzen finden als Libretto Verwendung, die Komposition ist aber über weite Strecken nicht auf Textverständnis angelegt. Das Verfahren lässt an Morton Feldmans Umgang mit Samuel Becketts Text in „Neither“ denken. Auch will Wertmüller offensichtlich nicht Text und Bilder im engeren Sinne weiterdenken. Ihm scheint es in erster Linie um das Gegensatzpaar „abstrakt – real“ zu gehen.
Die Bühnenaktion überzeugt, vor allem wo sie abstrakt bleibt, Strukturen der Musik folgt und diese sichtbar macht, auch da, wo die Spielerinnen sich bewusst zu den holografischen Musikvisualisierungen von Thomas Stammer verhalten, die nur selten Gegenständliches andeuten und noch seltener ins Dekorative kippen. Andeutungen persönlicher Haltungen bei den Darstellerinnen aber, spekulative Rollenzuweisungen und darauf aufbauende Konfliktbehauptungen gerinnen der Regisseurin Anita Rutkofsky oft zum Dekor.
Warum etwa erscheint die „Conférencière“ Sylvie Rohrer als optische Doublette der Ausdruckstänzerin Anita Berber in Otto Dix‘ Gemälde aus den 20er-Jahren? Natürlich, die reale, historische Berber hat exzessiv gelebt und viele Drogen zu sich genommen. Und Rohrer verliert im Berber-Kleid ihre Bodenhaftung, begegnet ihren eigenen Hologrammen und wird dann von einem, riesengroß gewachsen, verspeist. Aber was erzählt das einem, der das Gemälde nicht kennt? Wo findet er Orientierung oder Fundament? Und mir, der das Bild zufällig kennt, schließt dieses Wissen die Gedankenräume eher, als das es sie öffnet, weil dann genau, und ohne Brüche, das Erwartbare geschieht.
So ermüdet das Auge ein wenig, dämmern die Synapsen unmerklich weg, während das Ohr weiter jubiliert. Aber dann saugt sich der Blick in der Mitte des Raumes fest. Da steht, mit schwenkbarem Notenpult und im Frack mit aufgekrempelten Armen überm schwarzen T-Shirt, Titus Engel, der musikalische Leiter des Abends. Er koordiniert, er löst aus, er folgt, macht Kleines groß oder noch kleiner, verteilt Großes im Raum oder formt es zur schlanken, poetischen Skulptur, multipliziert Rhythmus und Empathie, schenkt und lebt Struktur. Der Dirigent ist die zentrale theatralische Aktion dieses Abends. Hier ist „D.I.E“ eindeutig Theater. Musiktheater. Und preiswürdiges.