Foto: Constanza Macras' "The Ghosts", uraufgeführt bei Tanz im August 2015 © Manuel Osterholt
Text:Christine Matschke, am 7. September 2015
Eine mitreißende und unterhaltsame Leichtigkeit kennzeichnet „The Ghosts“ von Constanza Macras, das im Rahmen des Festivals Tanz im August in der Schaubühne am Lehniner Platz seine Premiere feierte – das allerdings nur auf den ersten Blick, bleibt einem die Begeisterung für das zirkushafte Bühnentreiben im Verlauf des 100-minütigen Abends doch immer wieder ganz kräftig im Halse stecken. Denn die kommunistische Volksrepublik China – aus staatseigenen Reihen vehement als Idealbild der Brüderlichkeit gefeiert und propagiert – wird hier satirisch bis sarkastisch dekonstruiert und als diktatorisch-manipulativer Staatsapparat mit rasant ansteigenden kapitalistischen Interessen überführt. Anlass von Macras choreographischer China-Demaskierung ist das Schicksal von Akrobaten: in ihren Kinderjahren von der rotchinesischen Regierung zu rumreichen Volksvertretern instrumentalisiert, werden sie an der Spitzenleistungshöchstgrenze von Mitte 20 unfreiwillig aufs soziale Abstellgleis manövriert.
Die Bühne gleicht einem Lager für Theaterbauten: ein zweistöckiges Podest, davor eine notdürftig aus einem Brett und zwei Riesenedelsteinen hergestellte Bank in Schräglage, Treppenversatzteile sowie transparente seidene Vorhänge die rechts und links wie von der Decke hängen – und schon ist der Zuschauer mittendrin im ersten von Armut und Unterdrückung geprägten seltsam entrückten China-Bild: Sechs Performerinnen in weißen Kleidern, die langen schwarzen Haare vor dem Gesicht, steigen barfuß auf das Podest und überqueren es wie eine terrassenartig angelegte Landschaft. Mit schlafwandlerischer Sicherheit jonglieren die jungen Frauen und Mädchen dabei auf Stäben Teller und funktionieren auch dann noch blind und reibungslos, als sechs Performer ihnen ihr Körpergewicht entgegenstemmen und das Weitergehen erschweren – das Leben und die Gefühle von Mädchen und Frauen haben in der chinesischen Kultur traditionsbedingt keinen großen Wert. Sie fristen im Gegensatz zu den Männern ein gesellschaftliches Schattendasein, sind beinahe unsichtbar wie die „hungrigen Geister“, unerlöste Seelen aus der chinesischen Alltagsmythologie, die Macras ihrem Stück zugrunde legt. So löst diese zurückhaltend Teller quietschende Geistinnen-Karawane – „ein Geist ist kein Mensch, aber besser als gar nichts“ – auch gleich das kraftstrotzende Solo eines Tänzers ab, begleitet von einem live erzeugten laut scheppernden Metallsound chinesischer Schlaginstrumente.
Knapp zwanzig Minuten nach ihrem Beginn wird die Aufführung durch Constanza Macras aufgrund einer Beamer-Panne unterbrochen und neu begonnen (– während der Kulturrevolution in China „galt … ein technischer Fehler oder ein Unfall auf der Bühne als konterrevolutionär“, verrät ein Blick in das Programmheft). Absichtlicher Premieren-Kunstgriff oder tatsächliches Fauxpas, das bleibt offen. Aber die Privatfotos einer ganzen Akrobatendynastie, welche nun immer wieder auf eine Wand projiziert werden, kontrastieren den staatlich anerzogenen fanatischen Ehrgeiz und den an Masochismus grenzenden absoluten Durchhaltegehorsam mit blumig-glückseligen Familiendarstellungen und sensationellen Erfolgsgeschichten. So wird gerade auch im überspitzt inszenierten Interview einer Macras-Tänzerin mit den drei jungen chinesischen Hauptdarstellerinnen der autobiografische Wahrheitsgehalt des Stücks deutlich: mit naiver Selbstverständlichkeit und mit viel falsch verstandenem Stolz berichten die kindlich verspielten, und nun ja, gut dressierten, Mädchen von ihren halsbrecherischen Leistungen. Begleitet von einem chinesisch-englischen Gesangduett über menschliches Leid – Peking-Oper trifft hier auf westliche Operntradition – üben zwei der drei Akrobatinnen das kontinuierliche Lächeln bei einer gefährlichen Rollschuhnummer. Verbunden durch ein Seil, Hals an Kopf, erhebt sich die jüngere der beiden Schlangenmenschinnen in die Lüfte. Der Zirkusknigge vieler Zuschauer funktioniert auch hier noch tadellos, bei jedem neuen Kunststück Ahs und Ohs sowie tosender Beifall.
Am Ende der Inszenierung steht die Frage nach dem (Mehr-)Wert von Kunst. Die Körper der Akrobatinnen werden dabei in einer lebensgefährlichen Schlussszene gleichzeitig als kostbares Objekt und austauschbares Konsumgut dargestellt. Ob sie alle eine Haftpflichtversicherung hätten, fragt eine der Tänzer das Publikum – die Künstler haben nämlich keine – und dann beginnt, ganz dicht am Bühnenrand, überwacht von zwei muskulösen Oben-Ohne-Tänzern, eine temporeiche fußgesteuerte Tisch- und Menschjonglage, mit der die chinesische Schreckensherrschaft das Publikum ganz unverblümt erreicht.
Fazit: Constanza Macras „The Ghosts“ ist eine intelligent inszenierte postmoderne Mischung und Überlagerung von tänzerischen, akrobatischen, schauspielerischen, musikalischen und fotografischen Elementen, welche die auch in westlichen Ländern zunehmende Selbstausbeutung von Künstlern und das Verständnis vom kunstschaffenden Menschen an sich choreographisch verhandelt und, bis auf einige wenige Längen, gekonnt umsetzt.