Foto: Jeanne Balibar und Alexander Scheer in "La Cousine Bette" an der Volksbühne. © Thomas Aurin
Text:Detlev Baur, am 30. Dezember 2013
Eine Drehbühne (von Bert Neumann) mit einem verschachtelten Haus, Live-Kameras, die das Ensemblespiel über weite Strecken der fünfstündigen Inszenierung auf Leinwände bannen. Neu erfunden hat Volksbühnen-Intendant Frank Castorf sein Theater seit den grandiosen Dostojewski-Inszenierungen aus der Zeit der Jahrhundertwende nicht. Und doch zeigt diese Inszenierung von Balzacs Paris-Roman „La Cousine Bette“ (zu deutsche „Tante Lisbeth“) das Theater Castorfs auf alten und damit neu gefundenen Höhen. Die Textvorlage ist eine fürchterliche Geschichte um geile alte Männer und sehr unterschiedliche Frauen in der Stadt der Liebe während des 19. Jahrhunderts. Baron Hulot ruiniert seine Familie durch seine Schwäche für das vermeintlich schwache Geschlecht und vor allem durch seine blinde Liebe zur so gierigen wie gerissenen Madame Marneffe.
Sein Freund und Gegenspieler Crevel hält zu Beginn des Romans bei Hulots schöner und frommer Ehefrau Adeline vergeblich um eine (gut dotierte) Affären-Hand an. Damit beginnt auch die Inszenierung im Schein eines Kaminfeuers. Marc Hosemann ist ein energisch komischer Parfümeriehändler mit rheinländischem Akzent, Kathrin Angerer eine herrlich nervig-reine Leidensfrau. Auch die anderen sieben Mitspieler agieren ausnahmslos überzeugend hemmungslos im Gewirr von Treppe, Kammern, Kameras und Rampenszenen. Jeanne Balibar spielt eine zunehmend irr werdende Titelfigur, die sich bei ihren aus Hass an der Familie geleiteten Intrigen in ihre selbst gespannten Schicksalsfäden aus Strickwolle verstrickt – und wirkt dabei wie eine unterdrückt sinnenfrohe Jungfer. Auch Claire Sermonne (Madame Marneffe), Lilith Stangenberg (die wirre Tochter Hulots) und Noa Niv (Sängerin und Ex-Mätresse Josépha, Maximilian Brauer (polnischer Maler und Sexobjekt von Tochter und Tante), Bernhard Schütz (in diversen interkulturellen Rollen) und Alexander Scheer als hormonübersteuerter Baron glänzen durch krasse Figurenzeichung und große Bühnen- bzw. Kamerapräsenz.
Das Spiel wirkt entspannter als frühere Inszenierungen, lässt sich fast süffig genussvoll betrachten. Castorf macht sich einen Spaß aus Balzacs überdrehter Geschichte um Begehren, das großen Hass gebiert. Die aufdringlichen und rassistischen Äußerungen des Romanciers über gierige Jüdinnen oder weichliche Slawen verknüpft die Inszenierung zunehmend mit dem im Roman privat gehaltenen Hassmotiv; der häufig qualmende Schornstein (über dem Kamin) weckt in dem Umfeld kurzzeitig grölender Herrschaften Assoziationen an „völkische“ aus Hass geborene Greueltaten. Bei allem Klamauk und großer Spielfreude: aus Geschichten wird – subtil angedeutet – Geschichte; dabei wechseln dann auch die Zuordnungen der Gestalten, der Mann Marneffes wird etwa kurz zum Geliebten, und der umstrittene französische Dichter Céline gerät ins Spiel. Castorf schüttelt das Geschehen unterhaltsam und anregend durcheinander. Und scheint durch seinen Musiktheaterausflug nach Bayreuth zu einer verstärkten und subtilen Musikuntermalung von Oper über Neue Musik bis Rock animiert.
Am Ende will der unaufhaltsame Hulot – inzwischen wie die anderen Gestalten mit verzerrender Commedia-Maske eines Alten nicht mehr von der Bühne (des Lebens) abgehen. Auch Castorfs Theater gibt nicht auf – mit altersmilde-entspanntem, schelmisch-kritischem Blick.