Foto: Szene mit Ines Marie Westernströer (A) und Thomas Schumacher (B) © Matthias Horn
Text:Tobias Prüwer, am 18. Mai 2014
„Disney hat den Märchen die Eier abgerissen, hat sie kastriert“: Über die Disneyfizierung der Welt sind schon Konferenzen abgehalten worden. Und nachdem Kampagnen wie „Pink stinks“ die Zementierung der Geschlechterbilder in Frage stellen, kommt mit „Träume werden Wirklichkeit!“ die ultimative Theaterantwort aus dem Dresdner Staatsschauspiel. Ultimativ, weil in der deutschen Erstaufführung ein scharfzüngig-pointierter Text auf kluge wie unprätentiöse Regie und ein famos ausgelassenes Schauspielerduo trifft. Dicht dran, manchmal sogar mittendrin erlebt das Publikum auf der Studiobühne eine Achterbahn der Gefühle im Leben einer Generation, deren utopisches Potenzial sich darin erschöpft, Prinz und Prinzessin sein zu wollen.
Die Betonung klassischer Geschlechterrollen, die Wiederbelebung konservativer Werte und der Traum vom eigenen Schloss als mentale Durchhalteparole für den Arbeitskraftspender stehen lange schon in der Kritik. Dem dänischen Autor Christian Lollike ist es gelungen, eine solche gänzlich ohne pädagogischen Fingerzeig in Worte zu gießen. Das dialogische Stück besteht aus der Präsentation zweier fragmentierter Lebensläufe und mosaikartig eingefügten, fantastischen Spielszenen. Auf schnellen Spontansex – er markiert den Beginn des Stücks, als Frau A und Herr B auf die pinke und babyblaue Bühne stürmen und als Schattenrisse kopulieren – folgt das Gespräch danach. A lebt desillusioniert in einer Ehe und wünscht sich ein Abenteuer samt Prinz. B hätte gern wieder einen Job, würde aber viel lieber die Welt aus den Angel heben – weiß nur nicht wie und wohin die Reise dann gehen soll. „Stell dir vor, wenn wir die sind, die die Fähigkeit verloren haben, sich die Welt anders vorzustellen.“
Statt Wunschproduktion durch die Unterhaltungsindustrie, wollen A und B einen „Möglichkeitssinn“ reaktivieren, von dem Robert Musil einmal schrieb: „Wer ihn besitzt, sagt … nicht: Hier ist dies oder das geschehen, wird geschehen, muß geschehen; sondern er erfindet: Hier könnte, sollte oder müsste geschehen; und wenn man ihm von irgend etwas erklärt, daß es so sei, wie es sei, dann denkt er: Nun, es könnte wahrscheinlich auch anders sein. So ließe sich der Möglichkeitssinn geradezu als die Fähigkeit definieren, alles, was ebenso gut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist.“ Also versuchen beide, sich eine andere Welt auszumalen und landen jedes Mal im Bild- und Denkuniversum von Walt Disney. Wenn sie Schneewittchen, Aladin und Dornröschen anspielen, gehen sie nicht in Oppulenz verloren.
Die Regie setzt auf reduziertes Material: Die Kulisse als rosa beblümte Spielwiese besteht aus einem Rundkissen und einer Kiste sowie einem silbernen Vorhang im Hintergrund. Ein paar einfache Requisiten müssen reichen, um mit einem Palästinensertuch aus B einen Aladin zu machen, ein gelber Rüschenrock markiert die Zwergengefährtin; Figuren- und Objektheaterelemente kommen hinzu. Auf diese Weise sind Ines Marie Westernströer und Thomas Schumacher ganz auf ihr mimetisches Können angewiesen – und sie begeistern durch Vielseitigkeit. Zwischen komischer Grimasse und suizidaler Selbstzerstörungswut, kesser Lippe, romantisch-erotischen Anflügen sowie realistisch gespielter Tristesse beherrschen sie die Klaviatur großer und kleiner Gefühle und Gesten. Sie umschiffen mit Leichtigkeit die Gefahr, sich selbst in eine disneyesken Theatralität der Affektiertheit – „Drama, Baby!“ – zu begeben. Mal leise, mal laut verlassen sie sich auf die Unmittelbarkeit der Theatersituation und das geht wunderbar auf. Und wenn die beiden immer wieder aus der Rolle fallen, das Theater selbst thematisieren und das Publikum ansprechen, bekommt der Zuschauer eine Ahnung, warum Dagobert Duck vehement einen ganz neuen Handlungsrahmen einfordert. Er will ein neues Märchen leben, eins mit Eiern. Bevor sich aber sein Wunsch erfüllt, dräut das Happy End.