Foto: Hamlet kauert vor dem Geist © Bregenzer Festspiele/Karl Forster
Text:Roland H. Dippel, am 21. Juli 2016
Diese mehrfach von Applaus durchschnittene und vom ORF als Live-Stream gesendete Festspieleröffnung ist eine substanzreiche Opern-Entdeckung! Und das trotz der Produktion des italienischen „Hamlet“ durch die Opera Southwest im amerikanischen Albuquerque vor zwei Jahren. In Bregenz hört und sieht man die durch und durch packende Realisierung eines entschlüsselnden Parallelwerks neben Verdi. Olivier Tambosis Inszenierung strukturiert mehr als dass sie affektiv in Bann schlägt. In diesem Fall ist das ein Riesenvorteil, weil auf der großen Bregenzer Bühne Shakespeares Sprünge zwischen Schein und Sein transparent werden wie alle weiteren dramatischen Verdichtungen von Arrigo Boito (1842-1918) und die echt raffinierten Perspektiven und Schichtungen in der Partitur von Franco Faccio (1840-1891).
25 Jahre alt war der Komponist, 23 Jahre alt der Librettist zur Uraufführung von „Amleto“ am Teatro Carlo Felice in Genua am 30. Mai 1865. Auf eine einzige Aufführung an der Mailänder Scala 1871 verschwand das Werk bis 2014. Es ist bekannt: Boito, der Faccio sicher für die Komposition beraten hatte, verbesserte als Librettist Verdis für „Otello“ und „Falstaff“ die bei „Amleto“ erstmals erprobten Mittel. Franco Faccio ließ dem Scala-Debakel von „Amleto“ keine weiteren Werke folgen und wurde Verdis bevorzugter Dirigent für „Aida“, „Don Carlo“, „Otello“.
Im Festspielhaus Bregenz holte Paolo Carignani mit den Wiener Symphonikern wirklich alles aus der hochrangigen, kontrastreichen, melodisch dichten und harmonisch spannenden Partitur. Mit Passion und Intelligenz. Dieses Opernmanifest der „Scapigliati“ auf der Opernbühne relativiert Verdis Entwicklungsprozess zwischen den italienischen „I Vespri Siciliani“ und dem verkürzten „Don Carlo“. Boitos geschickte Straffungen in vier fast gleichlange Akte mit je zwei Teilen zeigen weit mehr dramaturgische Zielstrebigkeit als sein zur Eigenkomposition bestimmtes „Mefistofele“-Textbuch. Faccio wollte ebenfalls plastisch modellierte Ensembles. Tableaux werden nicht aufgebaut wie in Paris, sondern starten „in medias res“. Dabei findet die Partitur vor allem in den Soli und dialogischen Duetten immer wieder zu geschlossenen Perioden und vielfältigen orchestralen Klangmischungen. Carignani distanziert sich deshalb zu Recht von der Pose des blinzelnden Wagner-Kenners und lässt die wenigen schemenhaften „Lohengrin“-Reizungen absaufen. Den mit freudig bewegter Konzentration aufspielenden Wiener Symphonikern gönnt er nur marginal das Aufzüngeln tänzelnder Gefälligkeitsangebote im eröffnenden Bacchanal mit Orgie.
Es ist nicht das geringste Verdienst von Olivier Tambosi, dass er in seinen szenischen Bewegungen diese musikalischen Schichtungen verbildlicht. Frank Philipp Schlößmann bietet ihm dafür einen von Leuchtreihen umrahmten Vorhang in blutsinnlichem Tiefrot am Portal und einem weiteren vor der Hinterbühne, der sich nur zum Erscheinen des Geists von Hamlets Vater vor einer Steinhaufen-Ödnis öffnet. Lange verschiebbare Tische werden zur Zuschauertribüne beim Sängerspiel um die „Ermordung Gonzagas“ und zum Austragungsort des Duells zwischen Amleto und Laerte, Schminkspiegel machen diese grausig schöne Welt ebenso zum Theater wie die Goldkronen des Mörderpaars.
Wichtigster Unterschied zwischen Faccios „Amleto“ und Ambroise Thomas‘ wenig später entstandener Grand-opéra „Hamlet“ (1868) ist Boitos attackierende Konzentration von Shakespeares Handlungsfülle – ganz ohne glättende Abschweifungen. Wirklich jede lyrische Szene mündet nach eingangs gefasstem Melos in vibrierende Gewaltattacken. Und jede der sechs tragenden Figuren hat Handlungsfunktionen, die Shakespeare weiterdenken. Der chorfreie dritte Aufzug – da bereut König Claudio kurz, zerreißt sich Gertrude innerlich und liefert dann mit dem Geist und dem Sohn eine hochdramatische Terzett-Schlacht – war sicher Vorbild für Verdis Nilakt in „Aida“ und das Kabinett Philipps II. in „Don Carlos“. Hier wie dort äußern die Figuren überraschende Seelenkonturen.
Bis in die kleinste Nebenrolle stimmig ist die Bregenzer Besetzung der etwa „Don Carlo“ vergleichbaren Soli-Reihe. An der Spitze Pavel Cernoch in der langen Titelrolle, wohl neben Arrigo in Verdis „La battaglia di Legnano“ der zweite heimliche „Thrilling Part“ dieses Fachs: Amleto ist eine lange, lange Reihe intensiver Legato-Phrasen mit Attacken-Anforderungen über dichten Orchester-Ballungen, „Sein oder Nichtsein“ eine lyrische Exaltation mit später von Verdi intensiv verwendeten Vorhalten. Und mit drei Toten am Ende in gefühlten zwei Minuten gibt es für Amleto kein dankbares Finale, der Rest vor dem Schweigen ist ein letzter Schreckensruf.
Paul Schweinester wertet die wenigen Ariosi des zweiten Tenors Laerte gewaltig auf und ist mit einer Rückenrolle den Tisch hinunter dazu noch wendig.
An jeder Stelle ermöglicht Paolo Carignani den Solisten textakzentuierte Entfaltungen der fast durchgängig ariosen Satzstrukturen: Das gilt vor allem für die Ofelia von Iulia Maria Dan, deren Fokus in der auch im Piano immer sehr schön gefluteten Mittellage liegt. Dshamilja Kaiser prunkt in dem Amneris-artigen Part der Königin Gertrude mit klar gefassten Sopran-Höhen und entscheidet das dem mit „Il trovatore“ vergleichbare Kräftemessen der beiden Frauenparts knapp für sich. Claudio Sgura hat für Claudios dramatisches Gebet und das den Zweikampf von Amleto und Laerte mephistophelisch flankierende Trinklied die prägnanten Vokallinien wie für Macbeth und die durchdringende Deklamation wie für Iago.
Gesine Völlm rundet mit Roben in Schwarz-Rot-Weiß die vielen Spiele im Spiel zur beeindruckenden Totalschau. Das verdichtet Emotionen wie im Kino beim pseudo-elisabethanischen „Shakespeare in Love“, wenn Ophelia in Claudios „mordslustiger“ Orgie zerfließend mittanzen muss (Choreographie: Ran Arthur Braun) und in Amletos Zwiegespräch der Schädel des Hofnarrs Yorick elfenbeinern glimmt (Licht: Davy Cunningham).
Prachtvolles Basso-Cantante-Material hat Gianluca Buratto für Hamlets Vater und dessen Erzählung von seinem gewaltsamen Tod mit Wechseln zwischen geschärfter Deklamation und dramatischem Melos wie in Verdis großen „I masnadieri“-Monologen. Mit Paolo Carignani zusammen zeigt sich der von Lukáš Vasilek beeindruckend präparierte Prager Philharmonische Chor auf Höhe der intensiven Aufgaben.
Diese Aufführung übersteigt das emphatische Plädoyer, sie fordert weitere Auseinandersetzungen mit „Amleto“ regelrecht ein. Dessen Anforderungen sind von vergleichbarer Mehrschichtigkeit wie etwa die von Meyerbeers „Le Prophète“ oder Offenbachs „Rheinnixen“ und enthalten damit sattes Potenzial zur Repertoire-Erweiterung.