Foto: "Skinny" von Louis Stiens als einer der Höhepunkte © Stuttgarter Ballett
Text:Alexandra Karabelas, am 23. März 2018
„Made in Stuttgart“ ist in der internationalen Tanzwelt ein Gütesiegel. Wen Reid Anderson, scheidender Intendant des Stuttgarter Ballett, in den vergangenen 22 Jahren als choreographisches Talent erkannt hat, den förderte er konsequent. Ein Auftragswerk für einen gemischten Abend im Schauspielhaus galt immer als sicheres Zeichen, dass er an seine jungen Künstler glaubte. Das Publikum wiederum konnte sich darauf verlassen, nahezu seismographisch mit Themen, Lebensgefühl und Welterleben junger Künstler auf Tuchfühlung zu kommen.
So hob sich nun zum letzten Mal der Vorhang für fünf von Andersons Zöglingen, und alle waren bereit, ihrem Chef, dem einige von Ihnen mehr als ein Jahrzehnt verbunden sind, ihre Referenz zu erweisen: Roman Novitzky, Fabio Adorisio und Louis Stiens kommen, ebenso wie Katarzyna Kozielska, aus der Compagnie. Marco Goecke, der von Andersons Nachfolger Tamas Detrich geschmähte deutsche Meisterchoreograph und zukünftige Ballettdirektor Hannovers, lieferte zum letzten Mal eine Kreation als Hauschoreograph des Stuttgarter Ballett ab.
Sein „Almost blue“ ist eine großartiger, von Melancholie geprägter, episodischer Entwurf auf emotional überwältigende Songs von Etta James oder Antony and the Johnsons. Pistolenschüsse am Anfang verweisen auf zu verarbeitenden Schmerz. Da ist auch einer innerlich an einer Stelle gestorben. Wie immer funktioniert die Inszenierung von Goeckes stilprägenden Bewegungslösungen auf mehreren Ebenen: die überraschende Bedeckung der Arme der Tänzer mit schwarzen Handschuhen oder des ganzen Oberkörpers mit schwarzen T-Shirts, eine Verlagerung von Bewegung in den Körperinnenraum sowie schließlich eine betörend schöne Verlangsamung und Vereinfachung des mit höchster Anmut ausgeführten Vokabulars weckt Ahnungen, dass hier einer, was er über Jahre an Inspiration geschenkt hat, langsam dem Blick des Stuttgarter Zuschauers entzieht.
Zugleich entwickelt diese partielle Ausblendung des Körpers ein aufregendes, geradezu emblematisches Bild von Goeckes unnachahmlicher Ästhetik: nackte Torsi, Goeckes Markenzeichen aus dem Leib des Menschen, schweben atmend im Halbdunkeln. Danach ist Raum für Spiel: Ein Pärchen mit für Goecke ungewöhnlich nackten Beinen und in cremefarbenen Trikots umspielt sich. Frauen mit langen, schwarzen Röcken, die pudrig aufstauben, erinnern an den legendären „Orlando“, den Goecke einst für Stuttgart kreiert hatte. Ein lebensbejahendes, kraftvolles Männersolo bezaubert angesichts mental kaum zu verarbeitender Bewegungskomposition aus kleingliedrigen Moves, für die Goecke berühmt wurde. Aus Wannen gekippte Körner verändern den Bühnenraum. Zum Ende kommt sein Abschiedsstück jedoch mitten drin. Wenn Alessandro Giaquinto sich umdreht und sehr kleinen, langsamen Schrittes und unnachahmlicher Verschiebung des Oberkörpers die Bühne verlässt. Man erinnert sich wie Goecke einmal über die Choreographie des Rückens gesprochen hat: Es sei eine Kunst, das richtige Moment von dessen Beugung und Drehung festzulegen, um ihn nicht traurig, sondern „nur“ verwundbar, dabei stark und zart im selben Moment erscheinen zu lassen.
Fast roh, grob, unverhohlen auf Hunger und Fleisch des menschlichen Körpers verweisend und dabei mittlerweile brisant auf Augenhöhe zu Goeckes Können wirkt Louis Stiens‘ „Skinny“. Stiens verdaut in ihm Rhythmen, Geräusche, Körperbilder, Exzesse, Triebe und Sehnsüchte aus den Nachtseiten des Lebens, egal wo sie sich abspielen: online, in Bars oder dort, wo sich die Masse aufhält und herzeigt, bis hin zum Fitnessstudio. Grenzen kennt der in München aufgewachsene Newcommer keine. Er lässt seine Kolleginnen mit offenen, nassen Haaren und heraushängender Zunge expressiv werden, ohne sich auf eine bestimmte Animalität festzulegen. Die nackten Pobacken muss ein Tänzer entblößen, keine Tänzerin. Die Geschlechter- und Ballettstereotype lösen sich bei ihm im hautfarbenen, rauschhaften Körperentwurf auf, wenn seine Tänzer im Kreis laufen und springen oder sich mit erhobenen Armen zu einer Gruppe zusammenrotten. Hier macht einer alles, was der Zeitgenössische Tanz aktuell auch zu bieten hat, nur ohne dessen demonstrativen, konzeptionellen, ernsten Gestus. Das hat Klasse.
Selbiges gilt auch für Katarzyna Kozielska. Ihr gebührt es, den berühmten, nicht planbaren magischen Stuttgarter Moment für sich zu verbuchen. Die aufstrebende Polin zieht mit „Take Your Pleasure seroulsy“ ihren Hut vor Anderson und der Tatsache, dass er ihren Lebensweg mit wies: von der John Cranko-Schule über die Aufnahme in die Compagnie bis zur Möglichkeit, eigene Stücke zu entwickeln. Ihre Werk arbeitet faszinierend auf Spitze und weist erstmals konsequent ein eigenes, markantes Bewegungsbild aus, das Relevanz besitzt; getrost kann man hier anfangen zu verstehen, dass sich hier selbstbewusst eine neue, überzeugende weibliche Ästhetik im Ballett durchzusetzen versucht. Kühn, den Luftraum auslotend durch zahlreiche Hebungen und pointiert in der Beinführung, agieren die Frauen souverän und stark in der Ausstrahlung. Inhaltlich beeindrucken Mittelteil und Schluss: Die Erste Solistin Alicia Amaitrain zelebriert, von sechs Tänzern, eingetaucht in rotes Licht, geführt, gehoben und gehalten, auf eine atemberaubende Komposition von Kimmo Pohjonen einen der ungewöhnlichsten, atmosphärisch dichtesten und sinnlich-selbstbewussten Pas de Sept. Im Gegenüber steht ein zartes Pas de deux in weiß, voller Anmut, Feinheit und Freiheit – Kozielskas Referenz an die Primaballerinen, ihre Rolle im Ballett und an sich selbst, an einem Neuanfang stehend.
Eröffnet wurde der Abend mit „Under the Surface“ von Novitzky und „Or Noir“ von Adorisio. Als ob letzteres sich unter anderem von Christian Spucks „das siebte blau“ inspirieren ließ, lässt er seine Paare in schwarzer Strumpfhose und Trikots die treibende Auftragskomposition „Even in the oddest time“ von Nicky Sohn in Tanz umsetzen. Die Schwächen sind greifbar: noch ist weder das Verhältnis der Paare zueinander geklärt noch das Verhältnis des Tanzes zur Musik. Einzig Anna Osadcenko und Jason Reilly gelingt es hier, innerhalb der Gruppenchoreographie zum spannungs- und geheimnisvollen Ruhepol zu werden. Skepsis sind ebenfalls noch bei Novitzkys Kreation anzumelden, auch wenn dessen episodische Darstellung unterschiedlicher Paare und ihres Verhaltens unter der Oberfläche vom Publikum eifrig beklatscht wurde. Dem inhaltlich spannenden Impuls stand choreographisch und tänzerisch eine fast altbacken wirkende Darstellung unterschiedlicher, oft witziger Auseinandersetzungen zwischen jeweils zweien gegenüber. Raffinesse und Verankerung des Themas in der Gegenwart muss hier noch geleistet werden.