Foto: Szene aus "Istanbul" an den Schauspielbühnen Stuttgart © Martin Sigmund
Text:Verena Großkreutz, am 10. Juni 2023
An den Schauspielbühnen Stuttgart wird das Stück „Istanbul” vom Publikum gefeiert. Hier landet kein türkischer Gastarbeiter in Deutschland, sondern ein Stuttgarter am Fließband in Istanbul. Gesungen wird dazu auf Türkisch – melancholisch und rhythmisch.
Das ist gelegentlich das Dilemma Theater Kritisierender: Am Ende jubelt das Publikum stehender Weise und frenetisch, und man selbst hängt etwas paralysiert in seinem Sitz und ärgert sich über gerade erlebte Plattitüden, Sexismus und Homophobie auf der Bühne oder sinniert über einen gerade gehörten Song, den man in MeToo-Zeiten für nicht mehr möglich gehalten hätte. So geschehen in der Premiere von „Istanbul“ im Alten Schauspielhaus Stuttgart, dem Haupthaus der privaten Schauspielbühnen.
Da singt die Hauptperson Klaus Gruber (Reinhold Weiser) im Song „Dedikodu“ („Klatsch und Tratsch“) von Techtelmechteln und sexuellen Übergriffen, die ihm offenbar von anderen unterstellt wurden, und dann klatschen alle begeistert im Takt mit zum Refrain „Schwamm drüber! Dieser Kleinkram! Ich weiß wohl selbst, was ich gemacht habe“ – wobei unklar bleibt, zu was genau sich Gruber bekennen würde, als er von seiner Frau verdächtigt wird, sich mit einer Istanbulerin eingelassen zu haben.
Ein Stuttgarter am Fließband in Istanbul
„Istanbul“, verfasst vom Autor:innenteam Selen Kara, Torsten Kindermann und Akın E. Şipal und 2015 am Theater Bremen uraufgeführt, ist jedenfalls ein Erfolgsstück geworden. Die Idee des Plots ist auch wirklich gut: Der Spieß wird rumgedreht, in den 1960er Jahren kommen dementsprechend nicht die Arbeiter aus der armen Türkei, um per Anwerbeabkommen die deutsche Wirtschaft zur Blüte zu bringen, sondern umgekehrt. Klaus Gruber ist einer von
ihnen. Und weil „Istanbul“ immer an die Städte angepasst wird, wo es gespielt wird, stammt er in Stuttgart eben aus Untertürkheim. Er landet als Gastarbeiter im Istanbuler Ortsteil Balat, wo er Fließbandarbeit in einer Fabrik zugewiesen bekommt und sich nach Frau und Kindern und seiner Heimat zurücksehnt, nach dem VFB Stuttgart, nach Maultaschen und Filterkaffee.
Es folgt der Nachzug von Frau und Kindern, die Familie wird nicht, wie allseits erwartet wird, nach Untertürkheim zurückkehren, sondern sich spätestens mit dem in Istanbul geborenen Sohn dort verwurzeln. Das Stück nimmt vor allem die Anfangszeit Grubers in den Fokus, als er noch kein Wort Türkisch spricht und das Leben schwer ist in der Fremde. Die Geschichte wird im Rückblick erzählt. Es spielt der alte Gruber. Denn der zweistündige Abend beginnt
und endet mit seiner Urnenbestattung und der Frage des Beisetzungsorts: In der alten oder in der neuen Heimat?
Songs der türkischen Queen of Pop
Regie hat Murat Yeginer geführt, gespielt wird im bieder-realistischen Bühnenbild von Beate Zoff, in einer Gasse in Istanbul: links eine offene Bar, rechts ein heruntergekommenes Wohnhaus, im Hintergrund eine großformatige Fotoprojektion der Skyline Istanbuls. Gesungen wird durchweg auf Türkisch. In „Istanbul“ werden viele Songs von Sezen Aksu, der türkischen Queen of Pop, verbraten. Es ist also eher ein Aksu-Liederabend. Die sehr gute vierköpfige Begleit-Band ergänzt ihr Instrumentarium um einige traditionelle türkische Instrumente. Der Gesang bewegt sich größtenteils auf bescheidenem Niveau, allerdings sind drei der Schauspieler:innen, Selda Falke, Irfan Kars, Aykut Kayacik, hörbar zweisprachig aufgewachsen.
Richtig gut singt Ursula Berlinghof als Huber-Frau Luise, die intonationssicher und ausdrucksstark zur Sache geht. Die melancholischen oder rhythmisch mitreißenden Lieder wollen in ihrer oft poetischen Sprache („Ach, meine sprachlose Zunge, ach, meine lautlosen Hände“) allerdings nicht wirklich zum Schenkelklopfer-Niveau der Dialoge passen („Es wird ein Junge. Ich hab die Socken angelassen“, „Sucuks sind Saitenwürschtle“, „Wenn man Huber, Maier oder Schulze heißt, kriegt man hier keine Wohnung“ usw.).
Sei’s drum. Das Publikum liebt den Abend, klatscht mit, lässt sich gerne vom Ensemble zum Tanzen, Chai- und Raki-Trinken animieren. So gut ist die Laune selten in Theatern.