Foto: Olivier Messiaens „Saint François d'Assise” in der Stuttgarter Oper und im Stadtraum © Martin Sigmund
Text:Roland H. Dippel, am 12. Juni 2023
Die Staatsoper Stuttgart zeigt Olivier Messiaens Opern-Oratorium „Saint François d’Assise“ an verschiedenen Stationen: Das Publikum begibt sich vom Opernhaus aus auf eine Pilgerreise durch die Natur und erlebt Teile mit Kopfhörern und Open-Air.
Es ist ein neuer Trend im Musiktheater: Das Publikum schlüpft in die Rolle von Tieren. Beim Festival Passion:SPIEL Weimar wurde man in vier Herden als Schaf, Rind, Pferd und Huhn zum interaktiven Teil eines Bauernhofes. Ähnliches ereignete sich jetzt beim Großprojekt „Saint François d’Assise“ der Staatsoper Stuttgart – mit logistischer Notwendigkeit, inhaltlichem Doppelsinn und am Ende sogar mit ehrlicher spiritueller Überwältigung.
Mit dem Opernhaus selbst und dem etliche Tram-Stationen entfernten Killesberg gab es zwei komplementäre Schauplätze für die 1983 in Paris uraufgeführte Oper. Deshalb wurde das Publikum zum Hauptbahnhof und in die U-Bahn geführt, zur sommerlichen Parkerkundung in die Autonomie entlassen und wieder zurück begleitet. Einzelgrüppchen hatten Vogelnamen wie Gimpel, Fink und Zaunkönig, Kuckuck und Amsel und damit auch Hintersinn: Ist doch eine der wichtigsten Legenden aus dem Leben des tierliebenden Heiligen Francesco dessen Vogelpredigt.
Messiaens Vogelpredigt für die Vogel-Besuchergruppen
Bei Messiaen wurde sie ein aus „Saint François d’Assise“ gern für Sinfoniekonzerte herausgelöstes 45-Minuten-Filetstück, in dem der zutiefst gläubige Komponist und Organist einen Großteil seiner ornithologischen Studien und Tonpoeme verwob. Die Vogel-Besuchergruppen auf Holzbänken und heißen Plastiksitzen wurden so selbst Adressaten dieser post-impressionistischen Opern-Konzert-Predigt. Neben den deutschen Untertiteln erschienen die Vogelnamen, welche gerade aus Messiaens groß dimensioniertem Pfeif-, Schlag-, Zwitscher- und Krähochester intonierten.
Die riesige Besetzung des Staatsorchesters Stuttgart – allein mit drei Ondes Martenots, drei Perkussionisten am aus dem Haus besetzten Schlagwerk sowie Heerscharen von Streicher- und Bläsergruppen – war eine säkulare Antwort auf spirituelle Überwältigungsstrategien. Manuel Pujol hatte mit den über hundert Chor- und Extrachor-Stimmen zwar nur ein Drittel der von Messiaen gewünschten Besetzung einstudieren können, gelangte aber auf der Bühne wie im Freilichttheater zu orgiastischen Klangwirkungen.
Die hörbare Einsamkeit des Heiligen
Titus Engel hielt am Pult den Anforderungen der Partitur, deren repetierenden Tonstrahlen, der schmerzlich intensiven Tonmalerei von François‘ Gotteserlebnis und ihrer packenden Eindringlichkeit in voller Länge stand. Immer ganz nah war Engel an der schlanken Monumentalität Messiaens wie dem von Katrin Connan mit dunkler bis düsterer Strenge gestalteten Bühnenraum. Deutlich wurden damit auch die musikalisch hörbare Klaustrophobie und Einsamkeit des Heiligen. Der Ausflug in die Sommerfrische zwischen den beiden Teilen im Opernhaus war demzufolge wichtig. Wenn das Pilgerpublikum im Park dann auch auf die Figur des Engels und seine Doubles traf (Selfies und Fotos erlaubt), war das eine Pausen-Nische, die für die volle Konzentration bis zum Schluss hilfreich war.
Auch inhaltlich machte die Busreise des Staatsorchesters Stuttgart von der Hauptbühne am frühen Nachmittag auf das Killesberg-Podium in der Abendsonne und zurück in den Orchestergraben des Opernhauses Sinn. Auf der Opernbühne entstand immer mehr Raum für François, den Raumbedarf für dessen spirituelles Erleben und seine Entrückung. Dazu gab es das vierte Bild für die Wanderung vom MP3-Player mit hauseigener Einspielung, was erstaunlich gut klang. So blieb man die acht Stunden erstaunlich frisch.
Ebenso wie Michael Mayes in der Titelpartie. Mit Vollbart und Haarknoten ist er auf der Karriereüberholspur und singt voll durch. Die Choreografin Janine Grellscheid verordnete ihm schon im ersten Bild schwindeln machende Derwisch-Drehungen. Bei der Vogelpredigt am Killesberg muss Mayes in Begleitung von Elmar Gilbertsson als Bruder Massée sogar auf buschigen Abhängen balancieren. Und seine Entrückung zur jenseitigen Glückseligkeit wirkt wie Qualen unter Stromstößen eines elektrischen Stuhls.
Endlose Gott- und Gnaden-Suche
Nichts wird beschönigt und fraglich bleibt, ob der mit der Gewalt eines atomaren Vergeltungsschlags eintreffende Gnadenstrahl tatsächlich ins Paradies führt (Licht: Bernd Purkrabek). Verschmitzt sophistisch auch die Schlusswendung: Da erscheint wie Dostojewskis Großinquisitor Danylo Matviienko, der als Bruder Léon die Oper mit seinen Zweifeln und Ängsten beginnt. Gott- und Gnaden-Suche werden zur Endlosspirale. Die anderen Brüder hielten angemessene Balance zwischen emphatischer Präsenz und Devotion: Gerhard Siegel als Bruder Élie, Marko Špeha als Bruder Bernardr, Elliott Carlton Hines als Bruder Sylvestre und Anas Séguin als Bruder Rufin.
Anna-Sophie Mahlers Regie glitt nicht in Gefälligkeit ab, indem sie ein katholisches Heiligenleben mit der Dringlichkeit einer Klimawandel-Apokalypse darstellte. Die aus der Stuttgarter Bürgerschaft gesammelten Hoodys hängen an den Brüdern wie Sackleinen (Kostüme: Pascale Martin). Sie machen Chor, und Statist:innen zu einer globalisierten Millionendorf-Community ohne Individualität, die François beklagen und bewundern, dessen Nöte aber nicht im Geringsten verstehen. Der Libellen-Engel hat als einzige Figur Kostüme mit der grellen Buntheit von Regenbogenfarben und Lametta. Beate Ritter singt dessen Fragezeichen-Kantilenen mit milder Lieblichkeit und hypnotisch.
So ist Mayes‘ Aussteiger-François bei Anna-Sophie Mahler goldrichtig, in deren Denken das Werden und Vergehen, der wesenhafte Generationenwechsel sowie zwangsläufig ein bisschen Reinkarnationslehre und Darwinismus aufscheinen. Ekstatischer Beifall.