Die Regisseurin Elisabeth Stöppler hat jedenfalls mit solcher Art Ambitioniertheit Erfahrung. Sie steuerte bei dem ausschließlich von weiblichen Regieteams inszenierten Chemnitzer „Ring“ eine höchst überzeugende, selbst feministisch gedachte „Götterdämmerung“ bei. Aber auch im Graben stand mit Elena Schwarz diesmal eine Dirigentin am Pult, die die zwei Dutzend Köpfe starke Abordnung des Staatsorchesters Stuttgart, das sich auch von den Seiten- und der Mitteloge mit fulminantem Schlagwerk zu Wort meldete, sicher durch das Wortmeer navigierte.
Textmassen von 700 Übertiteln
Bei der Einführung wurde darauf hingewiesen, dass es für den etwas über einhundert pausenlose Minuten dauernden Abend 700 Übertiteln bedarf (während man bei der viel längeren „Tosca“ mit 500 auskomme). Die Textmassen sind zwar tatsächliche eine Rezeptionsherausforderung, aber sie lässt sich bewältigen. Das Verblüffende an dieser Novität ist nämlich eine so exemplarisch eingängige Wort-Musik-Verbindung, wie sie Hugo von Hofmannsthal und Richard Strauss vor allem in ihrem „Rosenkavalier“ gelungen ist. Es ist erstaunlich wie singbar man Alltagsfloskeln und ausschweifend reflektierende Passagen als Libretto in des Wortes doppelter Bedeutung verdichten kann.
Der zentrale Clou dieser Musiktheater-Neuheit ist eine Teilantwort auf die Eingangsfrage. Dora ist nämlich auch so eine Art Faust-Figur. Keine willkürlich zur Fausta mutierte Zentralfigur des deutschen Literaturerbes. Sondern eine junge Frau Mitte zwanzig (so die Rollenbezeichnung), die es nicht mal zu den Studien gebracht hat, an denen ihr prototypisches Vorbild so verzweifelt, dass er den höheren Ortes ausgeheckten Teufelspakt auf Erden eingeht.
Dora als junge, weibliche Faust-Figur
Doras Version des Habe-nun-ach-Monologes beginnt mit der modernen Nullbock-Variante „Wie ich diese Landschaft hasse“ und benennt Langeweile als Grundfarbe ihres Lebens im Bannkreis ihrer Familie. Er endet mit „Gelangweilt endet nun mein Gang, und gelangweilt trete ich in dieses Siedlungshäuschen ein“.
Dass es hier um eine Gegenwartsstimmung geht, bei deren Diagnose die überlieferten, zum Sediment gewordenen kollektiven Denkmuster der Vergangenheit hilfreich sein können, wird in der Struktur des Personals der Oper deutlich. Da wird die Familie als Kern von allem Möglichen (Dora, Vater, Mutter, Bruder, Schwester), Freund Berthold und Teufel mit einem antiken Chor konfrontiert. Acht als Archetypen von Gegenwartsmenschen kostümierte Mitglieder des Ensembles „Neue Vocalsolisten extended“ übernehmen genau die Rolle des kommentierenden Echoraums.
Dass Doras kleiner Bruder einmal eine XL-Version der gelben Reclam-Ausgabe von Goethes „Urfaust“ mit sich herumschleppt, gehört zu den augenzwinkernden szenischen Rückverweisen.
Wagner-, Strauss- und Schubert-Motive
Packender und von erheblichem Unterhaltungswert sind freilich die musikalischen Erinnerungen, die die Komposition von Lang durchziehen. Mit einer erfrischenden Hemmungslosigkeit lässt er Motive aus Wagners „Ring“ aufscheinen. Er macht diese Seitenblicke auf Rheingoldraunen und Götterdämmerungsverklärung zu einer Klammer des Abends. Wenn von Familie die Rede ist, klingt das Agamemnon-Motiv aus der „Elektra“ von Strauss an. Der kleine Bruder von Dora schmettert seinen Aufbruchswillen in der Diktion eines Jung-Siegfried über die Rampe. Die Verzweiflung Bertholds über seine unerwiderte Liebe zu Dora wiederum klingt ziemlich deutlich nach Schubert. Das ist wie Treibgut im Strom eines flott vorwärtstreibenden Parlandos. Es macht Freude wenn immer wieder eins davon auftaucht.
Dass Dora den Teufel bei dessen Auftauchen nicht erkennt, wird zum Symptom einer säkularisierten Welt. Dass er zunächst als Beamter und erst am Ende in einer historischen Mephisto-Kostümierung daherkommt, gehört zum teuflischen Schabernack mit dem hier das vorherrschende Alltagsempfinden immer wieder gepiesackt wird.
Wie eine Spiegelung der Gretchentragödie wirkt der scheiternde Selbstmordversuch Bertholds, der ihn in den Rollstuhl zwingt. Die Annäherung Doras an den Hilfebedürftigen ist zwar keine Antwort auf die Frage wer Dora nun eigentlich ist. Aber, wenn sie mit Berthold an der Rampe sitzt, Teufel und Chor ihre „Lebenshilfe“ für Dora aufgegeben haben, blitzt zumindest der Gedanke auf, dass es neben dem Erlösungsangebot bei Goethe vielleicht doch noch etwa geben könnte, was Dora aus der Verzweiflung ihrer Langeweile führen könnte. Das durchscheinende Götterdämmerungsmotiv verweist immerhin in diese Richtung.
Abstrakter Bühnenraum
Elisabeth Stöppler und ihr Ausstatter Valentin Köhler haben für diesen Weg der Selbsterkundung einen abstrakten Raum entworfen. Anfangs sitzen alle an der Rampe vor einer Rückwand mit dem Namenszug DORA. Wenn diese Wand nach hinten klappt, dann begrenzt ein Metallgerüst, das mit einzelnen Worten (wie gestern, heute, morgen) versehenen ist, den abstrakten Raum. Der ermöglicht ein präzise inszeniertes Interagieren aller Akteure.
Josephin Feiler als eloquente und glasklar artikulierende Dora ist Mittelpunkt und das vokale Kraftzentrum. Shannon Keegan und Dominic Große ihre beiden jüngeren Geschwister. Maria Theresa Ullrich und Stephan Boots als extrovertierte Mutter und Vater nutzen ihre Chancen, zwei entsprechend herausgeputzte Kleinbürger-Klischees par excellence zu zeichnen. Grandios zieht Marcel Beckmann alle vokalen und darstellerischen Mephistoregister für seinen wendigen Teufel, während Elliot Carlton Hines den von ihm traktierten und von Dora verschmähten Bertold auch in der Opferrolle einen Rest Würde sichert.
Der Jubel in Stuttgart war einhellig. Man kann nur hoffen, dass sich auch andere Häuser die „Dora“-Herausforderung zumuten und dem Publikum dieses hochkarätige Vergnügen gönnen.