Foto: "Pastor Ephraim Magnus" am Deutschen Schauspielhaus Hamburg. Carlo Ljubek, Samuel Weiss, Christoph Luser, Kathrin Wehlisch © Matthias Horn
Text:Jens Fischer, am 20. März 2015
Herrlich, dieses rotierend prunkende Bühnenbildlabyrinth: Ein gigantisches Pastorenhaus des Horrors hat Aleksandar Deni? gebaut. Mit dunklen Hölzern veredelt ist die Prachtbibliothek, inklusive TV-Ecke zur Präsentation von 50er-Jahre-Pornos. Daneben prahlt ein feurig illuminiertes Kaminzimmer, dessen Schornstein die Dachterrasse benebelt. Dazu gesellen sich schwarz marmorierte Versatzstücke der 1945 zerstörten Potsdamer Garnisonkirche, samt Orgelpracht und Folter verheißender Streckbank. Zwischen den großbürgerlichen und religiösen Orten schlängelt sich als Verbindungsgang der Speisesaal. Dort verbringt der pastorale Patriarch (Josef Ostendorf) seine letzte Lebensstunde, schimpft rülpsend, furzend, Frauenbrüste begrapschend über sein dampfendes Gedärm und bringt im Zustand inneren wie äußeren Verfaulens eine Art Verwesungshass zum Ausdruck.
Seine Kinder sind angetreten, um die letzen Worte vorm Gnadenschuss zu hören: Eine Abrechnung mit dem verfehlten Leben – nämlich vollgefressen, aber gepeinigt vom Hunger zu sein – und eine recht unkonkrete Rede von den einfachen Dingen der Erlösung sind zu hören. Das rächt sich. Fortan irren Tochter (Jeanne Balibar) und Söhne (Christoph Luser, Samuel Weiss) mit all den letzten Fragen auf den Lippen kompromisslos drauflos, suchen nach der unbedingten Liebe, der ultimativen Freiheit, dem ewigen Leben. Suchen als bürgerlich formatierte, also entwürdigte Kreaturen nach den Grenzen ihres profanen Daseins, um jenseits dessen einen heiligen Kosmos betreten zu können. Und wollen diesen Weg zu Gott durch die Wollust der Qual realisieren. Menschliche Körper taugen ihnen nicht mehr nur als Objekte der Fleischeslust, laden auch zum Verprügeln und Zerschnetzeln ein. Kannibalismus trifft Blasphemie. Es wird kastriert, gemordet, Inzest gepflegt, gekreuzigt, enthäutet, geblendet und ein glühendes Eisen vaginal eingeführt.
Hans Henny Jahnns Dramendebüt „Pastor Ephraim Magnus“, 1920 mit dem Kleist-Preis ausgezeichnet, braucht nicht den Exzess eines Regieberserkers, er ist dem wortmächtig verquasten Verbalsadomasochismus bereits eingeschrieben. Und doch verwundert es, dass Frank Castorf einen Narren an diesem schwül um Klarheit ringenden Text gefressen hat. Er lässt die Ekstasen von einem ihm auf Gedeih und Verderb verbundenen Ensemble in der ausgeglühten Raserei eines auf Schrei getrimmten Expressionismus darbieten. Die Redeschlachten und das spärliche Geschehen finden wie üblich irgendwo unsichtbar in den Kulissen statt, so dass Zuschauer stundenlang auf Leinwände starren müssen, wo die Darbietungen live übertragen und mit Videozuspielungen verschnitten werden. Einige Szenen sind auch sehr hübsch als Schattenspiel an den Seitenwänden zu betrachten. Früher oder später kommt diese wie jede Regiearbeit Castorfs beim verdrängten Faschismus an, so wird dann zwischendurch mal lustig gehitlert.
Natürlich wurden Castorf-typisch auch Fremdtexte eingebaut, wenn auch recht übersichtlich – beispielsweise von de Sade, Artaud und Bataille. Während sonst aber die Stücke zerfetzende Assoziationswut des Regisseurs auch mal rauschhaft beeindruckend überfordern kann, weil ihm einfach zu viel einfällt, gähnt nun ein Abend von der Bühne des Deutschen Schauspielhauses, bei dem ihm zu wenig einfiel. Für Castorf-Verhältnisse wird das Stück geradezu vom Blatt gespielt. Ohne auch nur irgendwo zu verdeutlichen: warum? Statt der den Darstellern immer mal wieder entfleuchenden Forderung nach einem Theater der Überschreitung sinnlich Nahrung zu geben, wird nur endlos Text herausgehauen. Der mit all den erzählten Gräueln kein befreiendes Schockpotenzial mehr hat. Und auch kaum Anlass für Hamburg bietet, den Autor als erst geschmähten, dann vergessenen Sohn der Stadt wieder in die Arme zu schließen. Die Inszenierung schleppt sich zerquält zum müden Schlussapplaus, inklusive mattes Pfeifkonzert. Ein Sturm der Langeweile.