Foto: „Eisenstein“ mit Sebastian Goller (l.) und Marco Wittorf in Eggenfelden. © Anne Gossow
Text:Martin Bürkl, am 22. Oktober 2012
Christoph Nußbaumeders „Eisenstein“ wurde 2010 in Bochum uraufgeführt und bisher stets mit reduziertem Personal gezeigt. In Eggenfelden, der Geburtsstadt des Autors, tief im Südosten Bayerns, verzichtet Christian Schneller fast gänzlich auf Doppelbesetzungen und bringt 13 Personen auf die Bühne. Einer Mischung aus Familiensaga und kritischem Volksstück gleich, entspannt sich eine Tragödie von antikem Ausmaß, ausgehend von einer doppelten Ur-Lüge am Ende des Zweiten Weltkriegs. Erna macht auf der Flucht über die tschechisch-deutsche Grenze bei Eisenstein kurze Bekanntschaft mit einem Flüchtling und erwartet bald darauf ein Kind. Sie heuert auf einem Hof an und kann dem Bauern einflüstern, dass der Junge von ihm sei; so hat sie ein Dach über dem Kopf und der Sohn ist versorgt. Die offizielle Geschichte lautet aber, dass der Sohn von ihrem auf der Flucht erschossenen Verlobten ist. Als sich der junge Georg in die leibliche Tochter des Bauern verliebt, wird die Beziehung verboten. Unter dem Eindruck der (vermuteten) „Blutschande“ und der Unfähigkeit, diese zur rechten Zeit aufzuklären, verstricken sich alle bewusst oder unbewusst in immer mehr Unwahrheiten und racheähnliche, glücklose Beziehungen. Nach einigen Beerdigungen kommt die Wahrheit ans Licht, doch längst ist zu viel Porzellan zerschlagen und das Gefühl unheilbarer Verbitterung gewichen.
Die gut 60 Jahre umfassende und sich episodenhaft enfaltende Handlung formuliert deutlich Sozial- und Gesellschaftskritik angesichts fortdauernder Nazi-Ideologie und Verstrickungen aus Politik und Wirtschaft. Nußbaumeders Text bietet dabei reichlich Anhaltspunkte, diesen geradezu als naturalistisches Stück zu inszenieren und Schneller rudert zusammen mit der Ausstatterin Birgit Angele von Anfang an eher halbherzig dagegen. Das Bühnenbild ist ein aufgemalter, kräftiger, bambihafter Blätterwald. In der Mitte eine leicht gekippte runde Plattform mit Holzbeplankung, die einmal Liebesnest, einmal Jauchegrube ist, aber vor allem an ein Fahrgeschäft erinnert. Gearbeitet wird mit heftigen Kontrasten, wenn die Schauspieler wiederholt als Chor frontal an der Rampe stehen und Kirchen-, Volks- oder Soldatenlieder anstimmen – Lieder, die inhaltlich meist quer zum zuvor Gesehenen stehen.
Dabei ist interessant, wie man mehrfach ins Geschehen hineingezogen und im nächsten Augenblick wieder heraus geworfen wird. Nicht nur wegen der harten Schnitte, sondern weil das Spiel auf der Bühne zwischen Naturalismus – man spielt in Tracht und zeitgemäßer Kleidung –, Melodram, TV-Soap und extremer Überzeichnung changiert. Das könnte in letzter Konsequenz unheimlich spannend wirken, erscheint aber unterprobt und ungewollt uneinheitlich.
Besonders stark und sich ihrer Rolle sehr bewusst spielen Julia Ribbeck und Marco Wittorf das zentrale, unglückliche Liebespaar. Wunderbar auch Christian Lex, dessen Geschäftsmann in Gestus und Duktus an den antiteater-Mitbegründer Kurt Raab erinnert, doch den spontanen Szenenapplaus erntet die von Barbara Bauer überdümmlich gezeichnete Magd. Der Regisseur hat das ursprünglich dreieinhalbstündige Stück gerafft und versucht, einzelne Figuren stärker zu gestalten, ihnen mehr Humor abzugewinnen. Das letzte Wort hat nach Gerlindes Beerdigung nicht der inzwischen erfolgreiche, aber jeder Illusion beraubte Großunternehmer Georg, sondern der ans Publikum gerichtete Schauspielerchor mit „Adé zur guten Nacht“.
Nußbaumeder bezieht sich mehrmals augenzwinkernd auf Fassbinder, dessen Neuinterpretationen des Volksstücks oft mehr als ein Stachel im Fleisch der Gemütlichkeit waren, sondern eher der Bohrer eines Zahnarztes, der zwar den Karies entfernt, dann aber doch tief und genüsslich im Zahnfleisch wühlt. Daran muss sich jede neue Lesart des Volksstücks messen – weder Nußbaumeders Vorlage noch Schnellers Interpretation können die Latte reißen. In Eggenfelden wurde darunter durchgetaucht.