Foto: Symbolträchtig bis bedeutungsschwanger: die blutrote Bühne in Ersan Mondtags Bearbeitung "Iphigenie" am Schauspiel Frankfurt © Birgit Hupfeld
Text:Bettina Weber, am 11. September 2016
An das Gute im Menschen, für das Iphigenie vor allem bei Goethe stand, glaubt der Regisseur Ersan Mondtag offenbar nicht. Vielmehr wird die griechische Heldin am Ende dieses Abends von den Schauspielern chorisch als Retterin des Abendlandes beschworen: Rettung allerdings nicht durch Humanität, sondern durch Inhumanität, also Tod und Vernichtung der Fremden. Was bei den Taurern grausamer Ritus ist – alle Fremden, die das Land betreten, der Göttin Artemis zu opfern, kurz: hinzurichten – wird projiziert auf die (immer noch) aktuelle, feindliche und territorial gedachte Abneigung vieler Menschen gegenüber Fremden bzw. Flüchtlingen. Diese pessimistische Übertragung des antiken Stoffs in unsere Zeit lässt die Schlussszene zum stärksten Moment eines Abends werden, in dem ansonsten kaum gesprochen, oft geschrien und hinter nahezu jedes der ausdrucksstarken Bilder ein Ausrufezeichen durch Wiederholung oder Langsamkeit gesetzt wird.
Zu Anfang ist da etwas Sprache: altgriechisch, vermutlich wird Euripides zitiert. Kaum ein Zuschauer dürfte dieser Sprache noch mächtig sein – hat uns der antike Stoff vielleicht doch nichts zu mehr zu sagen? Kathrin Wehlisch (im antiken Kleid) spricht den Text bedrohlich und verheißungsvoll am Bühnenrand, während die halbnackte Tänzerin und Schauspielerin Sylvana Seddig sich brüllend und wimmernd aus einer sarggroßen Einlassung im Bühnenboden windet. Der Vorhang, vor dem die ersten Minuten begonnen haben, hebt sich und offenbart einen ganz in rot geleuchteten Tempelraum, in der Mitte dominiert von einem breiten, flachen Wasserbecken (mit einigen Zentimetern Wassertiefe). Sprachlos wird die junge Frau geopfert – wer sie genau ist, bleibt unklar. Es folgt eine Reihe von noch assoziativeren Szenen, in denen die konzentrierten Schauspieler (außer Seddig und Wehlisch sind das Jan Breustedt, Sina Martens, Björn Meyer), in roter Badehose und oberkörperfrei, symbolisch die schrecklich brutale Familie geben, die im Iphigenie-Stoff eben so dominant ist. Eine soulig singende Yodit Riemersma, als Göttin mit Hirschgeweih gekleidet, betrachtet vom Rande das Geschehen, das weitgehend durch die Abwesenheit von Text und Sprache gekennzeichnet ist. Abwesend sind auch die klassische Handlung sowie eindeutige Figurenzuordnungen, am ehesten machen noch Bühne (Stefan Britze) und Kostüme (Raphaela Rose) deutlich, welche Geschichte dem Abend zugrunde liegt. Punktuell werden Fremdtexte chorisch zitiert, zum Beispiel die fremdenfeindlichen Aussagen des Regisseurs Alvis Hermanis. Später wird archaisch gegeneinander gekämpft oder imitieren die Darsteller Babys, saugen nacheinander auf dem Schoß der Mutter (Kathrin Wehlisch) an deren Brust, bis diese schreit vor Schmerz. Anschließend plötzliche und ironische Harmonie – in der die Spieler Arm in Arm im Wasserbecken schlafen, dann frohlockend herumplantschen. Da gab’s doch ein Happy End in der Geschicht’? Nicht bei Ersan Mondtag, bei dem vielmehr die Hinrichtung der Fremden beschworen wird: Im letzten Bild drehen sich alle Darsteller um, gehen auf die Knie, nehmen die Hände hinter den Kopf. Der Tod im Wasserbecken, das auf diese Weise natürlich Assoziationen ans Mittelmeer weckt. Wiederum überdeutliche Symbolik also.
Einige Formen der Provokation in Ersan Mondtags Inszenierung (in den Kammerspielen des Schauspiels Frankfurt) sind anno 2016 allerdings nicht mehr schockierend. Die Verdeutlichung der Blutrünstigkeit mag durchaus funktionieren, indem man tiefrot als dominante Bühnenfarbe wählt. Brüllen statt sprechen ist ebenfalls archaisch. Nur – halbnackte, schreiende Frauen in Wasserbassins hat inzwischen vermutlich jeder Abonnent oft genug gesehen – evoziert wird so allenfalls ein kollektives Gähnen. Eine Inszenierung von der Grundstruktur her in markanten Bildern zu denken, ist natürlich die eigentliche Provokation und liest sich in Zeiten einer Facebookisierung des Alltags, in Zeiten von Selfie-Fluten und einer omnipräsenten Fotomanie durchaus wie ein kritischer Kommentar auf unser mediales Rezeptionsverständnis: Was hat es in dieser Bilderwelt noch für einen Sinn, eine Geschichte von A bis Z zu erzählen? Andererseits wäre die Frage: Wo, wenn nicht im Theater?
Ja, es gibt einiges auszusetzen an diesem Performance-Abend, der so augenfällig auf Wirkung bedacht ist, der sich überhaupt nicht für Figuren interessiert, der bewusst die Nerven malträtiert und Liebhaber des konventionellen Sprechtheaters vergrätzen dürfte. Streitbar ist diese Inszenierung, denn einen eigenwilligen Zugang zur Iphigenie hat Ersan Mondtag, der aktuell so gehypte Nachwuchsregisseur, in jedem Fall gefunden – wenn auch einen sehr groben. Die Kernfragen aus der Vorlage berührt er allerdings trotz aller Verfremdung. Wer die Verbindung von Jetztzeit und Antike zumal in Sachen Fremdenfeindlichkeit sucht, bekommt sie eben nicht erzählt; sie kommt mit der Keule. Mitten ins Gesicht.