Dieser Plot hat alles, was man für ein erfolgreiches Musical braucht: eine leidenschaftliche Lovestory, bei der zwei Rivalen um eine Frau ringen, einen hitzköpfigen Titelhelden, der kein Blatt vor den Mund nimmt und gegen gesellschaftliche Zwänge kämpft, atemberaubende Choreografien und eine perfekt arrangierte Musik von Martin Lingnau, die kaum Zeit zum Luftholen lässt. Die Zuschauer – immerhin dürfen in diesen Corona-Zeiten noch 600 statt der sonst üblichen 1300 unter dem schützenden Zeltdach Platz nehmen – werden von Anfang an von einer Welle optischer wie akustischer Reize überschwemmt, die es nahezu unmöglich macht, einen Hit mit Ohrwurmqualitäten herauszufiltern. Gewiss, der Titelsong „Goethe! – das muss ein Wahnsinniger sein, was denkt er sich“ – hätte das Potenzial dazu. Ebenso die Begegnung der beiden unsterblich Verliebten Lotte und Goethe auf der Lichtung, die in einem zärtlichen Duett mündet, für das es bei der Uraufführung spontan Szenenapplaus gibt.
Christoph Wohlleben, als musikalischer Leiter in Hersfeld schon lange bewährt, holt aus dem bestens besetzten Orchester alles heraus, was lautstarke Töne hat. Die Rollen sind klar verteilt: Schlagwerker sorgen für harte Beats, Streicher für gefühlvollen Schmelz und Bläser für drohende Gefahr. Natürlich darf das Spinett nicht fehlen – wir schreiben schließlich das Jahr 1772. Zu seinem Klang intoniert mit glockenreiner Stimme Abla Alaoui ihr Solo „Ein Engel singt“. Als bezaubernde Lotte verdreht sie dem ungestümen Goethe unwiderruflich den Kopf. Philipp Büttner erobert als charmanter Draufgänger die Herzen im Sturm. Ein Bilderbuch-Liebespaar, für das es kein Happy End geben darf. Für den jungen Dichter allerdings bedeutet es den Durchbruch: Mit „Die Leiden des jungen Werthers“ gelingt ihm der erste Bestseller.
Regisseur Mehmert scheut sich nicht, weitere Anleihen bei Goethes reichlichem Zitatenschatz zu nehmen. Die Walpurgisnacht aus dem „Faust“ lässt grüßen, wenn der verschmähte Geliebte mit seinem Freund Wilhelm (sensibel verkörpert von Thomas Hohler) den Schmerz in einem zwielichtigen Etablissement ertränkt und die Guckkastenbühne auf der Bühne von Jens Kilian in grellen Farben flackert. „Welcome To The Show“ – nur eine von vielen dynamischen Choreografien, die Kim Duddy mit der glänzend aufgelegten Tanzcompagnie zupackend einstudiert hat, die einfallsreich mit Akten, Regenschirmen und Luftballons jongliert. Schade nur, dass Mehmert nicht die gesamte Weite der Stiftsruine nutzt und das Geschehen im vorderen Drittel nah an den Orchestergraben rückt. Dafür ist ihm aber eines ganz sicher gelungen: Er hat dem guten, alten Dichterfürsten den Staub aus dem Wams geklopft. Denn: Auch Goethe war mal jung!