Foto: Grosse Bilder, unklare Haltung. Tableau mit Jeffrey Dowd (Manolius) und Jessica Muirhead (Katerina) und Marie-Helen Joel (altes Weib) © Matthias Jung
Text:Andreas Falentin, am 27. September 2015
Ein Stück über hungernde, frierende, in jeder Hinsicht bedürftige Flüchtlinge, die in ein reiches Dorf kommen und trotz einer Welle der Hilfsbereitschaft von ‚unten‘ keine Aufnahme finden. Könnte das nicht das Stück der Stunde für die Opernbühnen sein? Zumal im für Martinu und Nikos Kazantzakis, dem Autor der Romanvorlage, zentralen christlichen Kontext? Was, ließe sich fragen, bedeutet denn der bejahende Umgang mit christlichen Werten, auch losgelöst von den Institutionen, in der aktuellen gesellschaftlichen Situation?
Jiri Herman, der Operndirektor des Brünner Nationaltheaters, erzählt die Handlung souverän in großformatigen Tableaus und reagiert auf den stark bildbefrachteten Text durch Einführung eigener Bildsymbole. Da sind immer wieder kleine Olivenbäume zu sehen (Hoffnung? Versöhnungsbereitschaft?), sind ein Akkordeon-Spieler und ein kleiner Junge (Abbilder von Komponist und Autor?) ständig auf der Bühne präsent, meistens als Beobachter, gelegentlich als Auslöser von Handlungsmomenten. Eine das Werk ins Heute verlängernde Haltung ist in Hermans oft pauschal stilisierender Inszenierung jedoch nicht zu erkennen. Auch findet er keine überzeugende Form für die spirituellen Wucherungen des Textes, was umso stärker ins Gewicht fällt, als in Essen die zweite Fassung der Oper gespielt wird, die den äußeren Konflikt zugunsten der inneren Entwicklung der tragischen Hauptfigur zurückdrängt. Die Ankündigung, dass der Hirte Manolios den Jesus in einem Passionsspiel spielen soll, stürzt ihn in eine Art positive Identitätskrise, die ihn geradewegs in Opposition zu den besitzwahrenden Dorfoberen führt, die ihn schließlich umbringen lassen. In Essen bleibt dieser Mensch im gepflegten Anzug uns fern, obwohl Jeffrey Dowd ihn wunderbar singt, expressiv und sehr kultiviert.
Wie überhaupt die musikalische Seite – wieder mal – eine großartige Visitenkarte für die Aalto-Oper ist. Dass es an diesem Abend doch Menschenschicksale gibt, die den Zuschauer nicht kalt lassen, liegt an den durchweg hervorragenden Sängern, die sämtlich dem hauseigenen Ensemble entstammen. Michael Smallwood bezaubert als Petrus-Darsteller Yannakos mit leicht ansprechendem Tenor, Jessica Muirhead brilliert in der musikalisch sehr anspruchsvollen Rolle der Prostituierten Katerina mit großformatigem, warm timbriertem und klarem Sopran und Baurzhan Anderzhanov adelt den Flüchtlingspriester Fotis mit dem innigen Leuchten seiner bildschönen Bassbariton-Stimme. Dazu singt der groß besetzte Chor beeindruckend intonationsrein. Auch die Essener Philharmoniker haben, abgesehen von kleinen Wacklern im dritten Akt, einen wirklich großen Abend, auch weil ihr Generalmusikdirektor Tomás Netopil klare Vorstellungen von Martinus Partitur hat und diese zu vermitteln weiß. Zentrum und Fundament des ungewöhnlich breiten Klangspektrums ist der fast durchgehend präsente, etliche Metamorphosen durchlaufende Streicherteppich. Er scheint ein Gleichgewicht zu repräsentieren, das immer wieder durch Nebenstimmen konterkariert und unterlaufen, teilweise auch durchbrochen und zugedeckt wird. Im Orchester erfährt der Handlungskonflikt der „Griechischen Passion“ jene dramatische Zuspitzung, jene schärfende Konzentration, die ihm auf der Bühne vorenthalten bleibt.