Foto: Musiktheaterperformance „Hast du schon gehört?“ mit Silas Eifler (Kontrabass), Tina Jücker (hinten) und Tobias Gubesch (Saxofon). © Ursula Kaufmann
Text:Manfred Jahnke, am 2. November 2020
Ein wunderbar schönes Idyll hat die Ausstatterin Regina Rösing auf die Bühne des Jungen Nationaltheater Mannheim gesetzt, wo das Bonner Theater Marabu seine schon im September 2019 uraufgeführte Musiktheaterperformance „Hast du schon gehört?“ zeigt. Hinter einem niedrigen Gartenzaun und einem grünen Rasenteppich sind gestaffelt aufgebaut ein Ständer mit Gitarre, ein Kontrabass, vorne rechts ein Saxofon und davor eine Klarinette. Dazwischen stehen wunderschöne Blumen aus Sperrholz und große Steine. Darüber wölbt sich eine orangene Scheibe, die später blau wird. Daneben gibt es ein Campingstuhl, nebst einer Kühlbox. Auf dieser Wiese agieren zu Beginn Silas Eifler (Kontrabass), Tobias Gubesch (erst Klarinette, dann Saxofon) und Leonard Spies (Gitarre). Sie spielen fetzig zwischen Swing und Dixieland auf (Musikkonzept: Markus Reyhani und Claus Overkamp, der auch für Text und Regie verantwortlich zeichnet). Zugleich spielen sie Schafe, die hysterisch auf den Begriff „Wolf“ reagieren, den der Hütehund ohne Argwohn einwirft.
Mit dem „Wolf“ ist die Idylle zerstört. Jede Nennung dieses Wortes greift auch in die Harmonie der Musik ein, die dann zur Kaskade nervender Klänge wird. Was in dieser Musiktheaterperformance verhandelt wird, ist das ernste Thema, wie Gerüchte entstehen und welche Folgen sie haben. Keiner hat je einen Wolf in freier Wildbahn gesehen, aber jeder meint, die Gefährlichkeit und Hinterlistigkeit des Wolfes zu kennen. Auch die eingespielten Kinderstimmen wissen davon. Und sei es nur, weil sie das Märchen vom Wolf und den sieben Geißlein kennen, oder Rotkäppchen. Aber ließ Rotkäppchen sich nicht vom Wolf zu den schönen Blumen leiten, begegnete ihm ganz ohne Angst? Schon wahr, die Hinterhältigkeit des Wolfes wird in diesem Märchen groß dargestellt, schickt er sie doch nur zu den Blumen, um sie nach der Großmutter fressen zu können.
Wo hysterisch reagiert wird, da haben auch Argumente der Vernunft keine Chance, sich durchzusetzen. Der Hütehund von Tina Jücker muss das bitter erfahren. Nicht nur bleibt ihr Lied, das danach fragt, warum der Fuchs kein Hühnchen fressen soll, ohne Widerhall. Ihr gesungener Hinweis auf bestimmte Nahrungsabläufe in der Natur, der Widerspruch, der da auftaucht, dass Tiere immer wieder andere Tiere fressen, bleibt als großes Fragezeichen im Raum. Schafe können den Wolf nicht akzeptieren, weil er sie frisst. Aber wie viele Schafe werden vom Wolf gerissen? Das Theater Marabu konfrontiert uns nicht allein mit diesem naturhaften Phänomen, sondern mehr noch lässt sich „Hast du schon gehört?“ als eine Studie begreifen, wie hysterische Reaktionen sich aufbauen, wie „Verschwörungstheorien“ funktionieren. So lässt sich diese Musiktheaterperformance nebenbei als aktueller Kommentar lesen.
Und hat ein Hirtenhund in sich nicht die Gene des Wolfes? Ist er nicht parteiisch? So werden Vertrauensverhältnisse zerstört. Tina Jücker spielt mit wenigen, aber sehr genauen Gesten diesen Part der Vernunft, eigentlich auf verlorenem Posten – und doch sehr souverän, als ob der Instanz der Vernunft nichts anzuhaben wäre. Aber die Schafe sind am Ende nicht wirklich beruhigt, sie haben sich in ihrer Hysterie eingerichtet. Claus Overkamp arbeitet das in seiner Regie sehr genau heraus. Und wenn es auch nicht beabsichtigt war im Produktionsprozess, lässt sich das auch als eine Analyse des gegenwärtigen Geschehens begreifen.
Nun müssen die Theater einen Monat lang schweigen.