Foto: Szene mit Raymond Very (Gustav von Aschenbach) © Hans Jörg Michel
Text:Andreas Falentin, am 16. Juni 2014
Schroffe, fast wilde Klänge kommen aus dem Orchestergraben. Die Streicher sicheln. Die Bläser bohren. Das Klavier begleitet mit eigenwilligen Kapriolen, klanglich nicht weit entfernt von Free-Jazz-Improvisationen. Lukas Beikircher und die fabelhaften Düsseldorfer Symphoniker lassen in Brittens letzter Oper keine Glätte, keine Süßlichkeit zu, formen ein großes, inneres Drama aus der Distanz der Vogelperspektive.
Die Musik trifft den auf der Bühne herrschenden Gestus genau. Immo Karaman zeigt in kleinen Momenten und großen Bildern die Geschichte einer Verstörung, und zwar nicht nur die Gustavs von Aschenbach, des Protagonisten von Thomas Manns berühmter Erzählung, sondern vor allem die des Komponisten. 1971 verschob Benjamin Britten eine, vermutlich, lebensverlängernde Herzoperation, um „Death in Venice“ fertig zu stellen. Es ist die persönlichste, vielleicht auch privateste unter seinen vielen persönlichen Opern geworden. Karaman zeigt das klar, ohne Britten explizit ins Bild zu lassen.
Die Bühne ist eine einstmals glanzvolle Hotellobby. Todessymbole, Zeichen des Verfalls allenthalben. Dazu eine morbide, dividualisierte, aber elegante und stilbewusste Party-Gesellschaft. Aschenbach ist deutlich als Fremdkörper gezeichnet, obwohl der fantastische Raymond Very nie exaltiert singt und auch seine Körpersprache gewollt sachlich wirkt. Bei ihm ist alles nach innen gerichtet. Bis Tadzio kommt, der „schöne“ polnische Junge. Bis das Begehren erwacht, die Hoffnung der Erfüllung einer Lebenssehnsucht nach intimer Begegnung mit Unschuld, mit „Schönheit“. Karaman inszeniert diese Anführungszeichen höchst differenziert mit. Kaspar Zwimpfer hat dafür einen engen, hohen Gedankenraum gebaut, der sich immer wieder in die Hotellobby bohrt, Aschenbach einen Rückzugsraum bietet und ihn einsperrt. Hier begegnet er auch immer wieder seinem Gegenspieler, seiner dunklen Seite. Peter Savidge drängt mit klangschönem Bariton und bestechender Wandlungsfähigkeit als rothaariger Dämon in multiplen Rollen zum Ausleben der Triebe.
Der Zuschauer meint die Verzweiflung zu spüren, die Britten – wieder: vermutlich – lebenslang umgetrieben hat, ohne dass er die Grenze je ganz überschritt. Das ist weder faszinierend noch abstoßend inszeniert, sondern einfach stringent geformt. Problematisch sind allein die Tanzszenen. Britten schreibt sie für Tadzio und seine Familie vor. Wo der, auch für die gelungenen Chortableaus verantwortliche, Fabian Posca klassisches Ballett choreographiert, gerät die Inszenierung immer mal wieder kurzfristig in einen Zustand der Statik, fällt die Spannung deutlich ab. Wo er moderner denkt, findet er kräftige Bilder, vor allem in den traumartigen Sequenzen um die Götter Apollon und Dionysos, die den inneren Konflikt Aschenbachs konsequent auf einer anderen Ebene fortschreiben.
Chor und Ensemble der Rheinoper singen und spielen hochmusikalisch, präzise und enthusiastisch. Alles wirkt frisch und genau, so dass man die Information im Programmheft, dass man hier einer sechs Jahre alten, ursprünglich für das Münchner Gärtnerplatztheater entstandenen Inszenierung begegnet, durchaus verwundert zur Kenntnis nimmt.