Foto: Akram Khan und Ching-Ying Chien in "Until the Lions" © Thomas Ammerpohl
Text:Bettina Weber, am 21. April 2016
Mit zarten, eleganten Pirouetten erkundet die junge Frau naiv und neugierig die neue Umgebung, in die ihr Entführer sie gebracht, nahezu geworfen hat, begegnet anfänglich ihm und seiner Ablehnung friedlich, versöhnlich. Sie zieht ihn immer aufs Neue an sich, bis er ihren Kopf schließlich einmal zu oft erniedrigend zu Boden gedrückt hat. Die Geschichte um Prinzessin Amba, die aus dem indischen Versepos Mahabharata stammt und Akram Khans neuem Tanzabend „Until the Lions“ zugrunde liegt, beginnt mit Neugier und Sanftmut, obwohl sie in einem brutalen Racheakt enden wird. Symbolisch stecken zu Beginn kriegerisch anmutende Bambusstangen oder Speere in den tiefen Rissen des Holzrunds – die Bühne ist als riesiger, runder Querschnitt eines Baums gestaltet – und lassen erahnen, dass hier Gewalt eine ebenso große Rolle spielen wird wie Schönheit, Zuneigung und Verständnis. In der Vorlage wird die junge Frau entführt und so um ihre Ehre gebracht. Daraufhin verweigern ihr sowohl ihr eigentlich versprochener Ehemann als auch ihr Entführer Bhishma die Heirat. Infolge heftiger Rachegefühle tötet Amba, reinkarniert als Mann, schließlich Bhishma, der ihr Leid verursacht hat. Ein afrikanisches Sprichwort besagt, dass Jäger nur solange verherrlicht werden, bis uns die Löwen die Geschichte der Beute erzählen – „Until the Lions“. So hat die Schriftstellerin Karthika Nair Ambas Geschichte benannt, die mit ihrer Bearbeitung des Stoffs das inhaltliche und szenische Konzept für den Abend geliefert hat.
Einige Elemente der Geschichte verbildlicht Akram Khans ergreifende und intensive neue Choreographie, die bei den Movimentos Festwochen in Wolfsburg jetzt die Deutschlandpremiere feierte, in konkret lesbare Bilder, wie zum Beispiel die Entführung, für die sich der selbst tanzende Khan als Bhishma die zarte Ching-Ying Chien schlichtweg über die Schulter wirft. Meist aber übertragen sich die zwischenmenschlichen, zwischengeschlechtlichen Handlungen subtil und werden abstrahiert. Dabei sind die Körpersprache und das Bewegungsrepertoire Khans sowie der beiden anderen Tänzerinnen seines Ensembles, Ching-Ying Chie und Christine Joy Ritter, emotional und anmutig, bisweilen auch archaisch. Wie eine Symbolfigur für die animalischen Instinkte des Menschen oder auch die männliche Kraft in der Frau bzw. in Amba überquert und umrennt Christine Joy Ritter die Bühne auf allen Vieren, windet oder dreht sich rasend und verharrt dann hockend, einen Speer zwischen den Zähnen, in kriegerischer Pose. Elemente des Kathak und modernen Tanz fusioniert Khan zu einem unverwechselbaren, eigenwilligen Stil. Stolz und offenherzig werden die Arme oder Beine straff und weit vom Körper weggestreckt, Hände oder Füße spitz gedreht oder zu Krallen geformt. Die Oberkörper werden im Gleichtakt vor- und zurückgewippt, dann verketten sich zwei Tänzer mit ihren Beinen, lassen die Unterkörper verschmelzen und erinnern an indische Gottheiten. Eine große Bedeutung spielt die Musik – Rhythmus und Gesang sind ungewöhnlich gleichberechtige Bestandteile der Inszenierung. Vier Musiker sitzen oder stehen wahlweise am Rand der Bühne, singen und bespielen Gitarre und Schlagzeug. Wenn sie zwischendurch im Gleichtakt bebend trommeln und so die Bewegungen der Tänzer akustisch verstärken, wird das Bühnenerlebnis besonders gewaltig und einnehmend.
Khans Choreographie ist sinnlich und stolz, roh und hochartifiziell gleichermaßen. Selbst beim brutalen Finale liegt etwas Erhabenes in der Luft, Ambas Sieg über ihren Peiniger vollzieht sich als einer der schönsten und bildgewaltigsten Momente des ganzen Abends. Das Khan sein neues Werk in Deutschland zuerst bei Movimentos zeigt, ist ein Coup und zeigt einmal mehr, wie hochkarätig die Programmauswahl ist – und dass, obwohl in diesem Jahr wegen der VW-Abgasaffäre schon gespart werden musste. Bleibt zu hoffen, dass Wolfsburg sein Festival auch künftig erhalten bleibt.