Foto: Thomas Jesatko (Usher, im Gang), Graham F. Valentine (rechts) und Ensemble in "Fall of Usher" © Walter Mair
Text:Andreas Falentin, am 13. April 2019
„The Fall of the House of Usher“ schien Claude Debussy das ideale Sujet zu sein, um seinen mit “Pelleas et Melisande” gefundenen Musiktheaterstil weiter zu entwickeln. Auch in Edgar Allan berühmter Erzählung gibt es den klaustrophobisch abgeschlossenen Ort, die Determination durch die Vergangenheit und ein undurchdringliches, nicht wirklich benennbares Geheimnis. Trotzdem wollte sich der Stoff nicht zur Oper formen lassen. Vermutlich scheiterte Debussy – zwölf Jahre lang, von 1905 bis zu seinem Tod – an der Unmöglichkeit, Poes romantisch geprägte Geschichte halbwegs linear zu erzählen, ohne das Geheimnis anzutasten oder gar auszudeuten. Hinterlassen hat er nicht einmal ein Fragment, sondern eigentlich nur ein Libretto und mehrere Kompositionspartikel, insgesamt weniger als eine halbe Stunde Musik. Der britische Musikwissenschaftler Robert Orledge hat sein halbes Leben verwendet, um diese Teilchen aufzufinden und zu einem Opernfragment von etwa 50 Minuten Länge zu verbinden. Das Ergebnis ist faszinierende Musik, um Stille kreisend, sich nach ihr sehnend, auf sie hinführend, dann wieder aus Angst davor verzweifelt aufschreiend.
Alle diese Impulse greift Anna Viebrock in ihrer Gestaltung des Stoffes auf – und wendet sie ins Aktive: Ihre Aufführung ist ein Statement gegen das lineare Erzählen an sich. Die von Debussy so subtil eingehüllte Stille stellt sie gnadenlos aus. Und sie legt vielfältige Spuren in die Vergangenheit, etwa mit dem Bühnenbild, das aus Lieblingsstücken ihrer Bühnenbilder der vergangenen 30 Jahre kompiliert ist, also sozusagen aus dem Viebrock-Archiv generiert wurde.
Vor allem verbreitert Viebrock Stoff und Stück, sucht offenbar Durchlässigkeit, Gleichzeitigkeit, vor allem: eine Atmosphäre für den Planeten Musik. Dafür übernimmt sie zunächst die Anfangsszene aus der „Usher“-Verfilmung von Roger Corman aus dem Jahr 1960. Sie lässt diese von Statisten nachspielen und doppelt die Szene auf einer Leinwand (Video: Lisa Böffgen), von wo aus auch der Text erklingt. In diese Szene hinein, ein tatsächlich magischer Moment, dringen die ersten Töne der eigentlichen Oper, der Benjamin Reiners und das Orchester des Nationaltheaters nichts schuldig bleiben. Fein werden die Klanglinien gesponnen, delikat das Farbspektrum entfaltet, sehnig kreischen die Eruptionen auf. Alles ist an seinem Platz, aber alles fließt. Und Viebrock inszeniert minimalistisch, lässt zunächst alle immer wieder aufstehen, sich anderswo wieder setzen, als wolle sie das Haus Usher mit einem Spinnennetz aus Gängen verhüllen, setzt dann die Drehbühne in Bewegung, zieht uns hinein in eine Geschichte, die wir uns selber bauen sollen. Der Arzt (Uwe Eikötter mit zwingender Präsenz und zielsicherer Prägnanz im Gesang): ein großes Rätsel, selbstloser Freund oder Aaskrähe? Der fremde Freund (der Rolle angemessen steif: Jorge Lagunes): Warum ist er so unbeteiligt an allem? Roderick Usher selbst (mit großem Farbspektrum und Expansionsvermögen: Thomas Jesatko): ein Mann im weißen T-Shirt, später m Anzug mit Sonnenbrille, der in keinen Raum zu gehören scheint, schon ein Geist? Und wer ist der Mann mit dem roten Haar, der bevorzugt auftritt, in dem er aus dem Kamin herausrobbt (Graham F. Valentine)? Der Feuerteufel, der dem Haus den Garaus machen wird? Das Schicksal? Der Vater? Gar die Vorfahren allesamt? Das Programmheft nennt ihn „La Peur“, also schlicht: Angst. Diese vier Männer bewegen sich durch Viebrocks Räume, ziehen allmählich, sozusagen beim Verfertigen des Gesanges, die dramatische Schraube an und enden in Tod und Leere.
Aber der Abend endet noch nicht. Jetzt sehen wir ausführlich das eigentliche Zentrum der Handlung, Madeline, Ushers Schwester, auf und vor ihrem Bett. Sie macht – fast nichts. Jetzt stellt Anna Viebrock die Stille aus, die endlose Routine, vielleicht, im abgelegenen Schloss. Wir hören Geräuschsamples dazu, vielleicht auch die aus Viebrocks Ausstatter-Vergangenheit. Zumindest ist mindestens einer der berühmten Marthaler-Fahrstühle akustisch dabei. Diese Leere, die in Poes Geschichte angelegt ist, an der Debussy, noch einmal vielleicht, auch gescheitert ist, überfordert das Publikum, erscheint als Provokation, ist, ein drittes vielleicht, zumindest im Ansatz so gemeint. Die knallenden Parketttüren schmiegen sich in den Sound.
Die, die aufgegeben haben, verpassen viel: einen vollkommen verrückten surrealen Film, der die 60er-Jahre herbeizitiert, gedreht ausschließlich an Schauplätzen im Nationaltheater selbst, mit Design-Requisiten und Anspielungen auf Filme von Bunuel, die Nouvelle Vague und vielleicht auch auf die Politthriller von Damiano Damiani. Estelle Kruger, die als Madeline wenig zu singen aber viel zu spielen hat, ist zurechtgemacht wie weiland Catherine Deneuve und hantiert ständig mit Fotoabzugsbögen und einer Kamera, was an Antonionis „Blow up“ denken lässt, noch so einen Film mit unantastbarem Geheimnis. Und auch musikalisch ereignet sich noch Großartiges: Estelle Kruger und Graham F. Valentine singen ein Debussy-Duett, zu dem man reisen möchte, hinreißend begleitet von Antonis Anissegos am Klavier, der auch im Film eine Hauptrolle hatte und uns im Anschluss gemeinsam mit dem Orchester mit Debussys Klavier-Fantasie bekannt macht. Und Graham F. Valentine schenkt uns noch eine Kurzfassung von Poes „Tell-Tale-Heart“. Am Ende schließt sich Madeline in dem Raum ein, in dem ihr Bruder von der Angst getötet worden ist, zu Klängen von Debussys Nocturne für Orchester. Und die Lichter löschen aus.
Der Applaus ist höflich, teilweise begeistert, teilweise verwirrt. Was ist hier passiert auf der Bühne, scheinen die Menschen im Parkett sich zu fragen. Ist überhaupt etwas passiert, was auf die Bühne gehört? Im Detail: Etliches. Im Ganzen: Jeder ist seines Glückes Schmied.