Foto: Malte Scholz als (falscher?) Prediger © Konrad Fersterer
Text:Florian Welle, am 1. Oktober 2018
Spannende Uraufführung als grenzgänger zwischen Theater und mediendiskursiver Bildungsveranstaltung: „die Aufführung einer gefälschten Predigt über das Sterben am Staatstheater Nürnberg.
Achtzehn lange Jahre war Klaus Kusenberg Schauspieldirektor des Staatstheaters Nürnberg. In dieser Zeit pflegte er die Klassiker, vor allem aber entwickelte er ein Faible für das Well Made Play und zuletzt, etwas kurios, für ein Genre, das in der Theaterlandschaft wirklich sehr randständig ist: das Fußball-Drama. Um zu erkennen, dass unter seinem Nachfolger Jan Philipp Gloger nun alles anders werden wird, genügte am Eröffnungswochenende mit wuchtigen vier Premieren bereits der Besuch der Uraufführung von Boris Nikitins „Aufführung einer gefälschten Predigt über das Sterben“. So eine Arbeit hätte es unter Kusenberg niemals gegeben. Arbeit deshalb, weil der 1979 in Basel als Sohn russisch-slowakisch-französisch-jüdischer Einwanderer geborene Nikitin bewusst offenlässt, ob der Zuschauer in den Kammerspielen eineinhalb Stunden lang einer Performance, einem Projekt, einem Schauspiel oder wirklich einer Predigt beiwohnt. Nikitin ist ein gerne mit biografisch-dokumentarischem Material arbeitender Grenzgänger, den die Gesetze und Regeln interessieren, die jedes theatrale Format besitzt. Diese gelte es solange durchzuarbeiten – vor nicht allzu langer Zeit hätte man wohl noch gesagt: zu dekonstruieren –, bis nur noch eine Frage im Raum steht: „Ist das überhaupt noch Theater?“
Ja, natürlich ist es noch Theater. Schließlich wohnt man einer Inszenierung an einem Haus bei, das eigens dafür gebaut wurde. Erlebt man auf einer Bühne das neue Ensemblemitglied Yascha Finn Nolting am Klavier und einen fulminanten Gospelchor (eine Fusion aus dem Nürnberger Gospelchor und den Veitsbronner „Vo!ces“), wie sie beide den Gastdarsteller Malte Scholz bei seiner Predigt in fünf Teilen musikalisch begleiten: „We all need somebody to lean on“. Dazu steht auf der Bühne noch ein Fernseher herum. Darin zu sehen sind fahrende Autos und ein nackter Körper. Warum auch immer. Mit anderen Worten: Nikitin hat als Autor und Regisseur bewusst arrangiert und Entscheidungen getroffen. Auf der Bühne die Theatermacher, im Saal die Zuschauer. Und dazwischen der Graben als symbolische Grenze.
Trotzdem erwischt man sich im Verlauf der äußerst geschickt gemachten „Aufführung“ immer wieder bei der zwiespältige Gefühle auslösenden Frage, was denn hier nun eigentlich Fakt und was Fiktion ist. Wo der fantastisch agierende Malte Scholz in der Rolle eines Predigers aufhört und wo der ganz private Malte Scholz anfängt? Schließlich berichtet uns Scholz mit Mikro in der Hand detailliert vom langsamen Sterben seines eigenen Vaters, der an ALS erkrankt war und erst vor wenigen Monaten starb. Entledigt sich dabei sogar noch nach und nach seiner Alltagskleidung (Jeans und Batik-Shirt). Bis er schließlich splitternackt vor uns steht, liegt, sitzt. Also einen Striptease im doppelten Sinne hingelegt und auf diese Weise verschiedene Grenzen überschritten hat. Allen voran die Schamgrenze. Aber auch die, die regelt, wieviel Intimität im öffentlichen Miteinander zulässig ist. Wir werden, ob wir es wollen oder nicht, zu Voyeuristen.
Doch nicht nur das. Scholz löst mit seiner Selbstentblößung etwas in einem aus. Was genau? Dies dürfte von Zuschauer zu Zuschauer variieren. Mögen die einen möglicherweise emotional berührt sein, kämpfen andere vielleicht mit Abwehrreaktionen, weil sie sich plötzlich mit der eigenen Sterblichkeit konfrontiert sehen. Das ist unangenehm. Schließlich ist die Frage nach dem Tod eine, die man im Westen nur allzu gerne verdrängt. Genau das aber kritisiert Scholz in seiner „gefälschten Predigt“ und plädiert mit Aristoteles dafür, dass wir alle wieder „das Sterben lernen müssen, um leben zu können“. Um seine Argumentation zu untermauern, bringt er das englische Wort „vulnerability“ für Verletzbarkeit ins Spiel. In dem Wort stecke die „ability“, also die Fähigkeit, sich verletzbar zu machen. Man kann „vulnerability“ aber auch mit Verwundbarkeit übersetzen, und spätestens ab da mag dem ein oder anderen klar werden, in welcher Traditionslinie sich Boris Nikitin stellt: Es ist die, die von Beuys? Environment „Zeige Deine Wunde“ über Heiner Müllers Ausspruch „Ihr habt das Sterben verlernt, deswegen seid Ihr zu keiner Revolution mehr fähig“ bis zu Christoph Schlingensiefs Fluxus-Oratorium „Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir“ reicht.
Seine körperlichen und seelischen Schwächen offen zu zeigen, würde Gemeinschaft stiften, erklärt Scholz weiter. Keiner wäre dann mehr alleine mit Krankheit und Tod. Zugegeben, ein schöner Gedanke, in dem man wohl das utopische Moment dieser „Aufführung“ zu sehen hat. Doch je länger man Malte Scholz zuhört, wie er mit ruhiger, einnehmender Stimme und Dackelblick erzählt und erzählt, desto mulmiger wird einem auch. Auf einmal fallen einem US-amerikanische Fernsehprediger ein und man beginnt sich zu fragen, ob man nicht hier und jetzt gerade auf perfide Weise manipuliert wird. Und hoffentlich erinnert man sich dann an die einleitenden Worte von Malte Scholz, die dieser in einer Art Prolog vielleicht ja wirklich noch als Privatperson und nicht als Predigt-Performer an uns gerichtet hat und in denen er uns gewarnt hat: „Predigt, meine Damen und Herren, bedeutet ja der Versuch, mit Mitteln der Rhetorik auf ein zuhörendes Publikum einzuwirken, so dass es sich verändert. Es geht darum, den Zuhörerinnen und Zuhörern mit Worten eine Botschaft zu übermitteln und sie dabei abzuholen, zu erheben und gleichzeitig in ihrem Alltagsleben zu bestürzen.“ Will heißen: Das Format der Predigt ist alles andere als harmlos, sondern per se auf Suggestion aus. Und spätestens ab diesem Zeitpunkt kippt dieser hochspannende Abend, der eine Predigt re-inszeniert, um deren Wirkungsweise offenzulegen, ins Politische und neue Fragen tauchen auf. Zum Beispiel: Wie wird Realität hergestellt? Wie Glauben und Gefolgschaft? Was ist Predigt, was Propaganda?