Foto: Im Riesenraum der Zeche Auguste Victoria in Marl. Ensemble und gefilmte Flüchtlingsfantasie in "Die Fremden" © JU/Ruhrtriennale 2016
Text:Andreas Falentin, am 3. September 2016
Wohl keine Premiere der diesjährigen Ruhrtriennale warf bereits im Voraus so lange Schatten wie „Die Fremden“. Da auf Kamel Daoud, dem Autor der Romanvorlage, seit einiger Zeit eine Fatwa, ein von einem barbarischen, religiösen Extremisten ausgesprochener Mordaufruf lastet, unterlag dieser Abend besonderen Sicherheitsvorkehrungen, die durch den Besuch von Bundespräsident Joachim Gauck gleichsam veredelt wurden.
Daouds „Der Fall Meursault“ reibt sich an Albert Camus‘ weltbekanntem Roman „Der Fremde“, denkt ihn weiter, geht gegen ihn an, überschreibt ihn nicht ohne Wut, scheint aber auch seinen Frieden mit ihm gemacht zu haben. Im Mittelpunkt von Daouds Buch steht jener namenlose Araber, den der Protagonist von „Der Fremde“ ohne offensichtlichen Grund erschießt. Daoud ist nicht der erste, der sich an der Namenlosigkeit dieses Opfers stört. Er ist wohl der erste, der versucht ihm eine Geschichte zu geben, eine Familie, einen Namen. Er lässt Haroun, den Bruder des Opfers, das Douad Moussa tauft, vom psychischen Zerbrechen dieser Familie erzählen, das in einem weiteren, scheinbar genauso unmotivierten Mord gipfelt. Dabei ist Daoud sein Sujet Mittel zum Zweck für eine sehr ernsthaft Aufarbeitung des Verhältnisses Europa – Arabische Welt einerseits und so harsche wie differenzierte Islamismuskritik andererseits.
Diese Ebenen kommen in Johan Simons Theaterarbeit allenfalls am Rande vor. Er hat mit der Zeche Auguste Victoria in Marl einen weiteren faszinierenden Riesenraum für die Triennale urbar gemacht. Er stellt fünf Schauspieler in Blaumännern, aus denen sie sich nach und nach herausschälen, zwischen die turmhohe Zuschauertribüne und eine gewaltige, rechts und links auf Schienen gelagerte Industriemaschinerie. Sachlich, versammelt, unexaltiert ist Sandra Hüller Meriem, die Frau, die zu Moussas Familie kommt und mit ihren Fragen und Erklärungen gleichsam das Spiel in Gang setzt. Die Spieler, außer Hüller keine Muttersprachler, verteilen sich immer wieder anders im Raum, lümmeln gemeinsam an den Gleisen, trennen sich, werden zu einsamen Inseln im Staub, wühlen darin. Und sie reden, kaum miteinander, nüchtern, selten mit unterdrückter Leidenschaft und, da verstärkt, fast immer annähernd gleich laut. Nur Benny Claessens fasst einen momentweise an. Durch seine lyrisch-weiche und doch scharf konturierte, physisch so präsente üppige Verlorenheit, gewinnen Haroun und Meursault momentweise Gestalt. Ansonsten greift sich Johan Simons aus beiden Romanen Textfetzen und scheint nichts zu tun, als sie, ansatzweise choreographiert, im Raum zu verteilen. Sie verbinden sich kaum, erschließen sich noch weniger. Heraus sticht allein Naivität, kaum auszuhalten in den wiederkehrenden Bemerkungen Harouns, in denen er den Autor Camus mit seinem Helden Meursault gleichsetzt. Diese Naivität findet in der filmischen Untermalung durch Aernout Mik eine irritierende Fortsetzung. Im ersten Teil kompiliert er dokumentarisches Filmmaterial aus dem kolonialen Nordafrika. Das wirkt gezwungen, sentimental, an einer Stelle auch komisch. „Bleibt der Erde treu!“, verlangt Pierre Bokema in schwarzer Soutane auf der staubigen Industriebühne – und auf der Leinwand erscheint umgehend eine hübsche, sich am Strand in der Sonne aalende Frau.
„Die Fremden“ firmiert unter ‚Musiktheater‘. In der Tat sitzen Reinbert de Leeuw und das grandiose Asko Schönberg Ensemble mitten im staubigen Raum und spielen Kagel und Ligeti auf höchstem Niveau. Aber die Musik hat kein Recht in dieser Aufführung. Sie setzt keine Impulse, ihre ästhetische Kraft ist weder Kern noch Ausgangspunkt, sondern wird eingepasst in den theatralischen Prozess, hat Atmosphäre und Übergangszeit zu liefern und wohl auch Leere zuzudecken. Kein Musiktheater also. Dennoch sind de Leeuw, Asko Schönberg und die Sängerin Katrien Baerts für den Höhepunkt dieser Aufführung zuständig. Claude Viviers silbengestammeltes Liebeslied „Bouchara“ darf sich quasi konzertant entfalten, während die erwähnte Riesenmaschine, nicht ganz geräuschlos, auf den Schienen zurückgleitet und dem Raum seine ursprüngliche Riesendimension gibt. Man hört beglückt zu. Danach wirken die Schauspieler in der Tiefe des Raumes klein wie Ameisen. Auf einer neuen, großen Leinwand sieht man die Zeche Auguste Victoria als eine Art Fantasy-Flüchtlingsunterkunft, errichtet mit hunderten orangenen Liegen und einem Statistenheer. „Man kann einen Abend mit dem Titel ‚die Fremden‘ nicht machen, ohne an die Flüchtlingsthematik zu denken“, sagt der Filmemacher Aernout Mik im Programmheft.
Weitergehende Zusammenhänge liefern weder er noch die Textbearbeiter Vasco Boenisch und Tobias Staab noch der Regisseur. Lapidar werden Sätze gesagt, Filmbilder gezeigt, Musik interpretiert, Schauspieler bewegt. Am Ende tanzt Sandra Hüller in der Stille, nachdem Györgi Ligetis Kammerkonzert lang verklungen ist. Klein. Weit weg. Fremd. Erst dann geht das Licht aus. Der Zuschauer bleibt ratlos zurück, mag sich ein wenig als Bildungslückenbüßer fühlen, sucht Haltung, sucht Poesie, sucht Aussage in dieser so weit entfernten, monströsen, brockigen, zähen Theatersuppe. Erstmals in der Intendanz Johan Simons mischen sich Buhs in den Applaus.