Foto: "Ein ganzes Leben" in Memmingen: Sandro Šutalo, David Lau, Klaus Philipp, Claudia Frost © Forster
Text:Manfred Jahnke, am 7. Dezember 2018
Es braucht Mut, „Ein ganzes Leben“, diesen poetischen Roman über das Leben des Andreas Egger, der von der Mächtigkeit der Berge erzählt und davon, wie nahe Leben und Tod zueinander gehören, auf die Bühne zu wuchten. Denn, was Robert Seethaler da auf seine lakonische Weise konzipiert, ist eher filmisch gedacht als dramatisch. Zumal er eine besondere Biografie mit der politischen Geschichte des 20. Jahrhunderts unaufdringlich verbindet. Denn Andreas Egger, der als Vierjähriger ins Tal kommt und von seinem Onkel, dem Großbauern, nur unwillig aufgenommen wird, hat eine Biografie, die eigentlich nur aus Niederlagen besteht und doch von einem grundsätzlichen Optimismus getragen wird. Er übersteht die Prügel seines Onkels, er liebt, doch verliert er Haus und Frau nach einem Lawinenabgang, er baut Seilbahnen und wird schließlich auch eingezogen, marschiert gen die Sowjetunion. Dort bezieht er zwei Monate Stellung, um dann für lange Zeit in einem Gefangenenlager zu verschwinden. Als er zurückkommt, hat sich die Welt verändert, die Touristen sind in das Tal eingezogen, er schlägt sich durch, bis das Herz stillsteht.
Überaus geschickt verbindet Seethaler dabei zwei Todesmotive. Seine Geschichte beginnt mit dem Transport des todkranken Hörnerhannes, der dem Egger, der ihn ins Tal bringen möchte, davonspringt, nicht ohne vorher von der kalten Frau, die den Tod ankündigt, erzählt zu haben. Kurz vor Ende taucht der Hörnerhannes wieder auf, als aus dem Eis geborgene Leiche. Und auch dem Egger erscheint die kalte Frau, eine Szene, die allerdings in der Memminger Uraufführung gestrichen ist: schade. In ihrer Bearbeitung hat die Regisseurin Jana Milena Polasek sich eng an die Vorlage von Seethaler gehalten. Sie übernimmt in Gänze die epische Struktur, die vier Darsteller erzählen die Handlung, mögliche dramatische Elemente sind ausgeblendet. Drei Schauspieler und eine Schauspielerin agieren bis auf wenige Ausnahmen ständig auf der leeren Bühne, die, wie der Garderobenständer auf der rechten Bühnenseite und der Requisitentisch auf der linken, alle Vorgänge auf der Bühne als theatrale sichtbar machen möchte. In der Mitte hinten steht auf Rollen eine dreiteilige Wand, die, wenn sie gedreht wird, ein mächtiges Alpenpanorama zeigt (Ausstattung: Peter Schickart).
Indem Polasek derart die Erzählstruktur unangetastet lässt, muss sie zu atmosphärischen Mitteln greifen, um Stimmungen zu erzeugen. Das beginnt damit, dass fast ständig Nebel wabert, dazu oft im Halbdunkel, am Anfang und später noch einmal ganz im Dunkel, oder im kreisenden Lichtkegel, wo der Nebel besonders schön erscheint. Oder Auftritten im Gegenlicht. Dann kommt als weiteres Mittel die Musik hinzu, die auch Peter Schickart ausgesucht hat, mal a capella, mal als Durchgang durch die englischsprachige Popkultur, mal auch als Toncollage, um Hitlerzeit und im schnellen Umbruch die Sowjets zu verdeutlichen. So wird Atmosphäre von draußen herangetragen. Und die Schauspieler? Sie treten als Erzählensemble auf. Rollen sind aufgelöst, Erzählung und Aktion fließen ineinander, dennoch lassen sich bestimmte Rollenkonturen erkennen. Sandro Šutalo deutet oft den Andreas Egger an, hoch emotional und zärtlich, dabei humorvoll Distanz zeigend, Claudia Frost unter anderem die resolute Marie, Klaus Phillip mit Charme die älteren Rollen wie den Prokuristen oder den Großbauern und David Lau, der im Wechsel mit Šutalo den Egger spielt. Warum er aber am Schluss immer noch sein russisches Folklorekostüm anhat, erschließt sich nicht.
Die unangetastete Erzählstruktur des Romans hat zur Folge, dass das szenische Spiel illustrativ wirkt. Auch, wenn Polasek dies zu brechen versucht, indem sie ihr Ensemble in gemeinsame Ausbrüche treibt oder bis zur Erschöpfung tanzen lässt, um aus der Atemlosigkeit heraus die nächste Szene aufzubauen. Aber das ist als Spielprinzip schnell durchschaut und erzeugt trotz aller Bemühungen über Licht, Musik und einem Ensemble, das in seinen Ausbrüchen zugleich eine humorvolle Distanz zeigt, eine bestimmte Gleichförmigkeit. Nicht immer wird die Musikauswahl in den Szenen sinnfällig. Und auch wenn das Memminger Ensemble sich durch überzeugende Präsenz auszeichnet, bleibt der Abend seltsam in atmosphärischen Aktionen befangen.