Foto: h.e.i.d.i. am JES Stuttgart © Tobias Metz
Text:Manfred Jahnke, am 20. April 2015
Wie geht man heute mit „klassischen“ Kinderfiguren wie Heidi um, die Johanna Spyri 1880 geschaffen hat und die in kürzester Zeit zum Schweizer Mythos mutierte? Unter der Firnisschicht pietistischer Sentimentalität, die so digital Natives nicht mehr erzählt werden kann, entwickelt die Autorin im Bewusstsein um die Krisenhaftigkeit ihrer Zeit eine Geschichte von Naturverbundenheit und Heimatliebe, die aber die soziale Depravierung der Figur nicht ausschließt. Dagegen setzt sie die Welt der Stadt, Frankfurt, in der mangels Zeit und im Rausch nach Geld auch eine Form der Verwahrlosung trotz aller (gekaufter) Fürsorge herrscht. Deshalb muss der an den Rollstuhl gefesselten Klara eine Freundin, Heidi, besorgt werden. Dass damit auch ein Mensch mit seinen Gefühlen „eingekauft“ wird, müssen alle Beteiligten erst einmal begreifen: einen Menschen kann man nicht so einfach entwurzeln, der Körper wehrt sich mit Krankheit – und so bleibt nur die Rückkehr der Heidi zu Alpöhi und Geissenpeter.
In dem Ensembleprojekt „h.e.i.d.i.“ als Kürzel von „Heimat entsteht in deinem Innern“ unter der Federführung von Klaus Hemmerle (Regie) und Christian Schönfelder (Dramaturgie) wird am Jungen Ensemble Stuttgart diese Aktualität auf eine überzeugend spielerische Weise umgesetzt. Das Bühnenbild zeigt zeichenhaft Momente des Fraport (Bühnenbild: Andreas Wilkens). So wird in Bild gesetzt, dass der eigentliche Handlungsort Frankfurt ist. In Rückblenden werden dann Sequenzen aus der Geschichte Heidis szenisch vorgeführt. Dazu werden Tücher vom Schnürboden herabgelassen, die die Bergwelt – Rotspitz, Silberhorn und Falkenstein – symbolisieren.
In dieses Fraport hinein rollt das Ensemble auf Bürostühlen herein, moderne Geschäftswelt, die Klara zunächst einmal beobachtet. Das alles geht mit hohem Tempo vonstatten. Dann der Bruch der Erwartungshaltungen: Klara wird von Prisca Maier gespielt, die wie später Sabine Zeininger als Heidi, mit derangiertem Strohhut, schon von ihrer Erfahrung her nicht den jungen naiven Rollenklischees entsprechen. Wie diese aber ihre Figuren bauen, wie sie mit winzigen Gesten mädchenhaftes Verhalten vorführen, Gefühle von Kindern deutlich machen, überzeugt. Wie die Zeininger die Heidi zugleich als Alpentrampel und als emphatisch empfindender Mensch, der einfach durch sein So-Sein zum ruhenden Pol in einer hektischen Welt wird und in dieser Erdverbundenheit (Heimat) eine ungeheure Kraft ausstrahlt.
In seiner Inszenierung verwandelt Klaus Hemmerle auf magische Weise alles in Spiel. Dabei balanciert er auf dem schmalen Grat von Komik, Ironie und dem Ernstnehmen der Figuren und der Situationen. Mit Gefühl für genaues Timing treibt er das Ensemble voran, in dem jeder mehrere Rollen spielen darf (mit Ausnahme von Heidi) und jede dieser Rollen mit nur geringen Kostümwechseln (auch hier wird die Zeichenhaftigkeit zur Form) präzise Rollenbilder erarbeitet, durchaus karikaturhaft, dabei aber nie die einzelnen Rollen verratend. So kostet Alexander Redwitz die entgegengesetzten Rollen des Frankfurter Chefs und des Alpöhi mit sehr unterschiedlichen Gesten aus, Gerd Ritter spielt die strenge verständnislose Erzieherin Frau Rottenmeier so, dass man mit dieser Frau fast Mitleid bekommt, Nils Beckmann strahlt als Geissenpeter männliche Kraft aus und Franziska Schmitz, gerade neu ins Ensemble gekommen, brilliert in verschiedensten Rollen, von der Dete, die die Heidi nach Frankfurt holt, bis zur Großmutter Sesemann, die in sich alle Menschenkenntnis vereinbart. Und wenn Hemmerle inszeniert, dann wird auch live Musik gemacht, von Schweizer Volksliedern bis hin zu „When the day is done“ von Nick Drake.
Hemmerle ist eine wunderbare Inszenierung gelungen. Kurzweilig, mit Tiefgang. Das Spiel mit dem Stoff, den Zuschauererwartungen, mit Klischees und Vorurteilen macht ungeheuer Spaß. Das ist nicht nur eine Produktion für Kinder ab acht, nein, bei dieser „h.e.i.d.i.“ haben auch Erwachsene ihren Spaß!