Foto: Chris und Clara auf der Schräge. © Christine Iberl
Text:Volker Tzschucke, am 26. Mai 2024
Mit „Kleists ‚Kohlhaas‘ dargestellt durch das Liebhabertheater ‚Die freche Distel‘“ findet am Staatstheater Meiningen ein ganz untypisches Theater im Theater statt. Björn SC Deigner hat ein Stück geschrieben, das durch ein paar Ansätze noch besser wäre.
Ganz sicher ist „Die freche Distel“ ein engagiertes Theater. Ohne eigene Bühne, doch mit viel Anspruch zieht das Ensemble mit dem Transporter seit Jahrzehnten durch die Mehrzweckhallen der Republik, straff geführt durch den politischen Kopf Karl Max – Achtung: sprechender Name –, der Gründer und Ensembleleiter, Regisseur und Schauspieler und alles in einem ist, und seine Ex-Liebschaft Edda, die – einst verheißungsvolles Talent, heute nur mehr zur Souffleuse taugend – die Truppe mit den immer gleichen Blechkuchen umsorgt.
Clara und Chris haben sich den beiden angeschlossen, getrennt zur Frechen Distel gestoßen, sind sie zu „Freunden plus“, womöglich gar zu Liebenden geworden, die bald ein gemeinsames Kind erwarten. Auf Dauer sehen sie sich nicht in Karls Truppe, eher soll sie ein Sprungbrett sein. Chris‘ altes Handy ist das Objekt der Sehnsucht: „Dein Akku ist schwach, dein Display zerkratzt, aber du wirst mein Glück sein!“ Wann kommt der erlösende Anruf?
Keine Klischees
Vier Personen beleben die Bühne der Kammerspiele Meiningen zur Uraufführung der von Björn SC Deigner erledigten Auftragsarbeit mit dem etwas sperrigen Titel „Kleists ‚Kohlhaas‘ dargestellt durch das Liebhabertheater ‚Die freche Distel‘“. Theater im Theater also. Das wird ja häufig zur klischeebeladenen Komödie: Der Blick hinter die Kulissen der kleinen Traumfabrik Theater offenbart lächerliche Eitelkeiten, Spleans und Zerwürfnisse. Dieser Gefahr unterliegt SC Deigner nicht. Auch wenn er den einen oder anderen entspannenden Lacher mitnimmt, nimmt er seine Figuren doch sehr ernst, zeigt uns ihre Sehnsüchte und Hoffnungen, ihre politischen Wünsche und verlorenen Illusionen. Er lässt sie hart miteinander streiten, lässt sie sanft aufeinander zugehen und sich umgarnen. Alle vier dürfen sich im knapp zweistündigen Theaterabend entwickeln.
Die Theatergruppe ‚Die freche Distel‘ auf der Bühne. Foto: Christine Iberl
Diese Entwicklung vollziehen sie am Kohlhaas. Vor Jahrzehnten haben Karl und Edda das Stück schonmal gegeben, nun ist es wieder dran. Karl spielt selbst den Kohlhaas, schon darüber gibt es Streit, Chris hätte doch viel eher das passende Spielalter. Auch über Ästhetiken wird gestritten: Dürfte es nicht etwas moderner sein? Wobei das dann hieße, womöglich auf den auch bald 100 Jahre alten Brecht‘schen V-Effekt zu setzen.
Kohlhaas in jeder Figur
Vor allem aber erlaubt es der Stoff selbst, der Kohlhaas, die eigene Rolle in der Truppe und in der heutigen Zeit zu hinterfragen. In jeder der vier Schauspieler-Figuren steckt ein wenig vom Kohlhaas. Und so darf jeder im Probenprozess mal in die Rolle schlüpfen: Da ist Karl, der früher das System attackierte und heute das Gefühl hat, er müsse die zarte Pflanze Staatlichkeit beschützen. Da ist Edda, die sich in Verschwörungserzählungen hineindenkt und neuerlich vom großen Umsturz träumt. Da ist Chris, der vermeintlich provokativ von einer Wiederbelebung des Marxismus redet. Und da ist Clara, die das „Theater der alten Männer“ zum Fallen bringen und die Idee leben will, Karriere und Familie miteinander zu verknüpfen. Kohlhaas, das ist für sie alle vor allem der Revolutionär, eine Galionsfigur bürgerlichen Ungehorsams, der die alte Ordnung zum Wanken bringt. So haben ihn die Nazis, die Real-Sozialisten, die 68er gesehen und so hat offenbar auch SC Deigner seinen Kleist gelesen: Die Proben der Frechen Distel zeigen den Prozess stetiger Radikalisierung, den niemand aufzuhalten imstande ist.
Fehlende Perspektive?
Dabei böte eben die Kleistsche Vorlage auch andere Ansätze. Die Geschichte vom Kohlhaas ist mindestes gleichberechtigt auch eine Erzählung von Zweifel und Innehalten, Kleists Kohlhaas ist aufhaltbar. Bei allem revolutionären Furor bremst er spontane Rachegelüste, hinterfragt sich, geht Erzählungen auf den Grund, lässt seine Frau statt seiner eine Lösung anstreben, nimmt das Gespräch mit seinen Kritikern auf und ist bereit, sich staatlichen Urteilen zu unterwerfen – und all dies, bevor er sich zur „Provisorischen Weltregierung“ erklärt. Er bleibt gesprächsbereit.
Indem Deigners Text diese Aspekte des Kohlhaas ausblendet, verschenkt er Gelegenheiten, Antworten für die Jetzt-Zeit zu finden, die er doch zu suchen vorgibt: Ja, jeder erklärt sich heute zum Freiheitskämpfer, jeder ist seine eigene Weltregierung, wird ganz richtig analysiert. Dass hier und heute kaum noch jemand innehält, dass eben Kohlhaasischer Selbstzweifel und Impulskontrolle helfen könnten – so weit geht die Analyse nicht. Und auch die Frage des nicht eingehaltenen Schutzversprechens des Staates böte eine Vielzahl von Möglichkeiten, den Verwerfungen der Jetzt-Zeit mit all ihren Angriffen auf die demokratische Rechtsordnung auf die Spur zu kommen, wie man’s in der Ankündigung verspricht.
Solche vergebenen Chancen mindern ein wenig die Kraft dieses Theaterabends, der ansonsten viel Gutes bereithält: Mit Thomas Büchel (Karl), Anja Lenßen (Edda), Pauline Gloger (Clara) und Jan Wenglarz (Chris) ein überzeugendes Quartett an Schauspielern, die ihren Figuren in euphorischen wie in leisen, in streitbaren wie in zärtlichen Momenten Glaubwürdigkeit zu geben imstande sind. Eine pointierte Regiearbeit von Cornelius Benedikt Edlefsen. Eine zweite, rahmende Erzählebene von großer poetischer Kraft, die auf Hieronymus Boschs Gemälden vom Garten Eden und vom Garten der Lüste referieren. Und ganz viel Kleistschen Originaltext, wenn auch an den „falschen“ Stellen gekürzt.