Vier Frauen spielen in verschiedenen Rollen in „Milch & Schuld“ alle Gefühle, Gedanken, Urteile, Geschehnisse rund um Kinderwunsch, Schwangerschaft, Geburt und Muttersein durch. Dabei funktioniert das Stück auf mehreren Ebenen. Da ist die Geschichte von Zartie, die als Leihmutter das Kind von Holly zur Welt bringen soll – gegen Bezahlung. Sie sitzt im Frankfurter Hauptbahnhof auf einer Bank und versucht, mit einem alten herabgefallenen Brötchen eine Taube anzulocken. Holly beobachtet sie dabei von der Balustrade im Bahnhof.
Sicht und Vorhang
Auf der Bühne sehen wir aber keine Gleise, keine Züge. Stattdessen mehrere Vorhänge, die auf- und zugezogen werden. Die den Zuschauenden einmal die Sicht nehmen und dann freigeben. So springt auch das Stück hin und her. Einmal ist da die rahmengebende Geschichte von Zartie und Holly. Dazwischen werden Stimmen von Müttern eingefügt: „Wenn sie Dich anlächeln, ist alles gut – bullshit!“. Autorin Sina Ahlers hat sie im Internet gefunden und in ihr Stück integriert.
Immer wieder werden Aspekte von Mutterschaft auch performativ eingefügt. Zwei der Schauspielerinnen krabbeln und turnen auf drei Polsterstühlen. Dazu Satzfetzen: „Du bist der Polizist, ich bin Baby-Dino … die Trinkflasche, die ist nicht beschriftet … Laterne, Laterne“. Verstehendes Lachen aus dem Publikum. Im nächsten Moment stockt der Atem, als Zartie erfährt, dass ihr ungeborenes Kind einen „Defekt“ hat. Sie verliert die Kontrolle. Sie klammert sich an die riesigen Decken, auf denen sie sitzt, die aber unter ihr und mit ihr weggezogen werden.
Doppelbespielung
Regisseurin Sarah Franke lässt jede Figur von zwei Schauspielerinnen spielen. So können Zartie und Holly ihre inneren Monologe als Dialoge führen. Eine Schauspielerin zeigt die äußere Seite der Figur, die andere die innere. Die eine Zartie sagt zu Holly: Sie wollen, dass ich Ihr Kind austrage? Die andere Zartie fragt sich, warum Holly nicht einfach ein Kind adoptiert. Teilweise treten die Schauspielerinnen auch ganz aus ihren Rollen hinaus, ins rein Performative: Wenn sie schwarz gekleidet mit spitzen Hüten zu einem treibenden Beat über die Bühne tanzen und die Ängste darstellen, die mit Schwangerschaft und Muttersein einhergehen.
Selbst die Taube wird von zwei Schauspielerinnen dargestellt. Sie bringt eine Perspektive von außen in die Gefühle und Gedanken der Frauen. Man kann sie auch als das ungeborene Kind deuten, das bei Zartie auf dem Schoß sitzt. Die Taube hat nur ein Bein, ist also auch „defekt“.
Facettenreiche Inszenierung
Sina Ahlers „Milch und Schuld“ ist am Ende wie ein Puzzle mit tausend Teilen, das sich aber nicht zu einem einfachen Bild zusammensetzen lässt. Wir bekommen Mutterschaft in allen erdenklichen Dimensionen zu sehen und können uns darin wiederfinden – vielleicht in dem unbändigen Wunsch nach einem eigenen Kind oder auch in der Trauer nach einer Fehlgeburt. Diesen Facettenreichtum zeigt Regisseurin Sarah Franke in einer durchdachten Montage aus Performance, Bühnenbild, Schauspiel und Soundeffekten.
Die Schauspielerinnen spielen intensiv, mit ihrem ganzen Körper. Sie kommen nah ans Publikum heran und wirken perfekt aufeinander eingespielt. Beim Schlussapplaus rinnen einer die Tränen hinunter und die andere wischt sie weg.