Foto: Cantata von Mauro Bigonzetti) mit dem Staatsballett Karlsruhe © Admill Kuyler
Text:Eckehard Uhlig, am 17. November 2024
Das Badische Staatstheater Karlsruhe leitet mit dem Dreiteiler „Leuchtfeuer“ eine neue Ära ein: Der imposante Abend verspricht Großes.
Der erste Aufschlag zu einer Runderneuerung der Tanzsparte am Badischen Staatstheater Karlsruhe ist von großer Erwartung begleitet: Wie präsentiert sich die Compagnie und die choreografierende neue Doppelspitze des Staatsballetts? Mit der ersten abendfüllenden dreistündigen Aufführung, dem Dreiteiler „Leuchtfeuer“, ist eine faszinierende Ballettpremiere gelungen. Ballett-Direktor Raimondo Rebeck begeistert mit der als deutsche Erstaufführung gebotenen Choreografie „A Journey of a Memory“, die zu collagierten Musiken von Ólafur Arnalds, Ezio Bosso, Frédéric Chopin, Philip Glass und Fazil Say Erinnerungs-Emotionen, gefühlte Liebesbegegnungen, Leidenschaft, sanfte Berührungen, Freude und Trauer in eine wunderbare Tanzsprache umsetzt.
Erlebte Tanzpoesie
Ein von barocken Meranoglas-Kronleuchtern schwach erhellter Saal zeigt zur Bühnenrückwand einen überdimensionierten Bilderrahmen, von zahlreichen Erinnerungsfotos bestückt. Rechts ist zudem ein mannshoher Standspiegel aufgestellt. In der Mitte des Bühnenbodens liegt eine träumende Frau neben dem herabgestürzten zentralen Lüster, der in den Bühnenhimmel gezogen wird. Mit ihm richtet sich die Träumerin auf und schreitet zum Spiegel, aus dem bald ihr zweites Ego als Freundin und Lebenspartnerin hervortritt. Der Erinnerungs-Reigen ist eröffnet.
Männliche Partner kommen hinzu, später auch zahlreiche befreundete Paare, die aus den Bildern hervor tanzen. Ihre Kommunikation bleibt der Tanz – herrlich weich schwebende und fließend gleitende Sequenzen, sehnsüchtige Soli, sinnlich betörende Duette anfangs der beiden Frauen, die sich bald mit männlichen Partnern vereinen. Auch Pas de trois sind darunter sowie auftrumpfende Ensembles. Ein Wunder, wie die Solisten Lasse Caballero und Ledian Soto ihre Partnerinnen Dina Levin und Natsuka Abe tanzend durch den Bühnensaal „transportieren“. Nicht nur auf Händen oder mit ihren Armen, auch auf Schultern, Rücken und Hüften. Dabei entfalten die Gespielinnen kongenial zur Musik geschmeidig hochvirtuose Gesten, neoklassisch-arabesk anmutende Körper- und Hebefiguren, die an erlebter Tanzpoesie nicht zu übertreffen sind. Das ist Klassik ohne Museums-Staub.
Kafkas Schloss
Eingeleitet wird der Abend mit einem sehr modern ausgelegten Handlungsballett-Einakter nach Franz Kafkas Roman „Das Schloss“. Die Tanz-Erzählung, eine Uraufführung der neuen Karlsruher Haus-Choreografin Kristina Paulin zu einem geräuschvollen, öfters auch minimalistischen Sounddesign von Davidson Jaconello, bietet ein tänzerisch surreales Abbild der schier undurchschaubaren Vorgänge im Schloss-Areal. Der Bühnenraum wird von einer abstrakt wirkenden Linien-Struktur aus manchmal hell aufblitzenden Neon-Leuchtröhren geprägt. So scheinen die Umrisse des geheimnisvollen Schlosses kafkaesk evoziert (Bühne Yoko Seyama). Davor agiert Daniel Rittoles als K. in hellbrauner Hose mit nacktem, schweißglänzenden Oberkörper.
Der exzellente Tänzer leistet ein enormes, balletteus forderndes Pensum mit energiegeladenen Schritten, Drehwirbeln und Sprüngen. Tändelnd und schlängelnd sorgt seine Hauptpartnerin Lucia Solari als Frieda, luftig transparent mit einem Hauch von Nichts bekleidet, für aufreizenden Charme. In überwiegend schwarzen, eng anliegenden Ganzkörperkostümen agiert das an Maulwürfe erinnernde Ensemble, eine abstruse Dorfgemeinschaft, in der Landvermesser K. ein zielloser Außenseiter bleibt. Aus dem Off gesprochene Textzitate und weitere Romanfiguren, darunter Olga (Carolin Steitz), K.s albernde Gehilfen (Leonid Leontev und Philip Sergeychuk) oder Hans in einer humorigen Herrenreiter-Rolle (Geivison Moreira) lockern die düstere Szenerie auf. Getanzt wird in klassischer Manier auf der Spitze bei hohem Tempo, dem ein Stampf-Rhythmus unterlegt ist.
Süditalienischer Prunk
Im abschließenden dritten Teil, der Karlsruher Erstaufführung von Mauro Bigonzettis Choreografie „Cantata“, entlädt sich ein turbulentes Tanzfest von uriger Schönheit. Dabei leben musikalische Traditionen Süditaliens auf: Vier durchgehend chorisch singende Damen (Lorella Monti, Cristina Vetrone, Enza Pagliara und Enza Alessandra Prestia), die als Gruppe unter den Tänzern agieren, geben wirkungsmächtig den Ton an. Währenddessen werden sie auch instrumental von Ziehharmonika und Handtrommeln unterstützt. Die ausgelassenen Volkstänze des bunt kostümierten Ensembles (Ausstattung Helena de Medeiros), die von spontan-wilden Soli, Duetten und dialogischen Spielszenen verbunden werden, spiegeln in Umarmungen und turnerischen Schaustücken Streit, Versöhnung und Freude wider, verdichten sich zu einer Hommage an die mediterrane Kultur und Folklore.
Danach wollte der Jubel des Premiere-Publikums kein Ende nehmen. Mit solchen „Leuchtfeuern“, mit dieser tänzerischen Intensität darf es beim Karlsruher Ballett weitergehen.