Foto: Ensembleszene aus „Angels' Atlas” © Serghei Gherciu
Text:Hartmut Regitz, am 29. April 2024
Das Staatsballett Berlin zeigt „Overture“ mit Choreografien von Marcos Morau und Crystal Pite. Während das erste Werk erschöpft, findet das zweite – „Angels‘ Atlas” – die volle Aufmerksamkeit des Publikums.
Nicht jedem Anfang wohnt ein Zauber inne. Wenn sich in der Staatsoper Unter den Linden der Vorhang hebt, lässt sich kaum erkennen, was die Menschen auf der Bühne so magisch anzieht. Ein Monolith wie in Kubricks legendärem Film-Epos „2001: Odyssee im Weltraum“ ist es jedenfalls nicht. Das Objekt, das in der „Overture“ ihre Neugier weckt, lässt eher an Zerstörung denken. Es wirkt wie ein Relikt aus apokalyptischen Zeiten.
Eine Körperlandschaft: „Overture” von Marcos Morau
Eher gerundet erstreckt es sich über die ganze Bühnenbreite. Es braucht viele Tänzer und Tänzerinnen, um es zu begreifen, zu besetzen, schließlich in Besitz zu nehmen. Marcos Morau, seit Saisonbeginn Artist in Residence beim Staatsballett Berlin, schöpft aus dem Vollen. Schließlich gilt es, Mahlers Fünfter choreografisch etwas entgegenzusetzen. Und das tut der Chef des Künstlerkollektivs La Veronal denn auch auf seine Art: Als wär‘ das 36-köpfige Ensemble ein einziger Körper, vervielfacht er dessen Bewegtheit auf beeindruckende, ja nachgerade beängstigende Weise. Sie fließt nicht, kommt nicht von der Stelle, sondern erscheint roboterhaft gestückelt, als müsste sich ihr Menschsein erst wieder aufs Neue gestalten.
Morau selbst verfügt über keine tänzerische Ausbildung, sondern hat Fotografie, Bewegung und Theater studiert: beste Voraussetzungen, wie er selber meint, um unbelastet ans Choreografieren heranzugehen und seinen Interpreten und Interpretinnen das scheinbar Unmögliche abzuverlangen. Das mag anfangs noch das Publikum irritieren. In seiner Massierung macht sein Bewegungskonzept immer dann Effekt, wenn sich die Tänzer und Tänzerinnen zu einer wogenden Körperlandschaft verdichten, die einen an den Expressionismus eines Rudolf von Laban oder einen Stummfilm wie „Metropolis“ erinnern.
Im nachfolgenden Adagietto wird ohnehin alles anders. Da erweist sich das schimmernde Objekt, endlich aufgerichtet, als eine Säule, zu der sich weitere aus dem Bühnenhimmel hinzugesellen: ein dicht bestückter Tempelraum von Max Glaenzel, der an Zivilisation denken lässt, an gesellschaftliche Strukturen, die sich nicht nur in der modischen, durchweg attraktiven Kostümierung von Silvia Delagneau immer verändern. „Transformation“ ist ein Schlüsselwort, das der Spanier im Programmheft gebraucht. Das Wechselspiel von Aufbau und Zerstörung empfindet er als eine kreative Kraft.
Spätestens im Finale von Mahlers Fünfter hat sie sich allerdings doch erschöpft, obwohl die Staatskapelle Berlin unter Leitung von Marius Stravinsky alles daran setzt, ihrer Vielgestaltigkeit gerecht zu werden. Rückblickend erklärt sich der Verzicht auf Satz 2 und 3 als durchaus sinnvoll, auch wenn der gut anderthalb Stunden dauernde Abend durchaus die ganze Sinfonie-Länge vertragen hätte.
Sakrale Amutung: Angels‘ Atlas“ von Crystal Pite
So findet nachfolgend „Angels‘ Atlas“ von Crystal Pite die volle Aufmerksamkeit des Publikums, und das ist gut so. Vor vier Jahren als Koproduktion des National Ballet of Canada und Ballett Zürich in Toronto uraufgeführt, lässt sich die Übernahme ganz leise an, und in die Stille senkt sich die Lichtwolke von Jay Gower Taylor, als wollte sie die Liegenden zum Leben erwecken. Auch Pite arbeitet mit einer großen Gruppe, in die sie allerdings ihre solistischen Begegnungen einbettet.
Das Werk hat eine sakrale Anmutung, wenn zu Anfang (von Band) die Nr. 6 aus Tschaikowskys „Liturgie des Hl. Johannes Chrysostemos” und zu Ende das „O Magnum Mysterium“ von Morten Johannes Lauridsen erklingt. Aber man kann die Arbeit auch anders lesen, wenn sich die Choreografie bildkräftig zu einem Pas de deux verdichtet. Da spürt man viel Liebe und Zartheit. Und nichts wirkt hier jemals aufgesetzt. Alle Paare ruhen in sich selbst – und durchaus klassisch grundiert ist aller Tanz, auch wenn die Gruppe zu den eigens dazu komponierten Elektronikklängen von Owen Belton ganz modern nach den Sternen greift.
Der Widerschein des Lichts hat etwas Transzendierendes, und wenn irgendwann einmal auf der Bühne ein Leben endet, wird ein neues beginnen. Am Schluss sinkt ein Paar sich umarmend zu Boden. Und auf einmal wohnt der Aufführung der Zauber inne, den man sich für eine „Overture“ eigentlich wünscht.