Foto: Szene aus „One Flat, reproduced“ © Yan Revazov
Text:Ralf Stabel, am 17. Februar 2024
Das Staatsballett Berlin präsentiert gleich drei Choreografien von William Forsythe. Alle drei zeigen die Vielseitigkeit des US-Amerikaners, welche von klassischen Bewegungen bis hin zu innovativen Erneuerungen des Traditionsballetts reichen. Hier wird deutlich, wieso Forsythe als Ballettgroßmeister betitelt wird.
Der neue Abend des Staatballetts Berlin unter Intendant Christian Spuck präsentiert William Forsythes Werke „Approximate Sonata 2016“, „One Flat Thing, reproduced“ aus dem Jahr 2000 und „Blake Works I“ von 2016. Nichts weniger als die künstlerische Entwicklung eines Choreografen, der wie kein anderer die Grenzen und Spielräume des klassischen Tanzes für unsere Zeit ausgelotet hat, ist zu erleben.
„Approximate Sonata 2016“ ist eine gelungene Ouvertüre. Schon beim Einlass wummern im Hintergrund leise die für Forsythes Arbeiten typischen Rhythmen von Thom Willems. Auf der Bühne folgt ein stetes Kommen und Gehen. Es ist eine Reihung von Szenen, meist Duette, in denen das ikonografische Bewegungsvokabular des Choreografen William Forsythe durchdekliniert wird. Für die, die nicht vom Ballett sind, zum Verständnis: eher geworfene und geschleuderte Hebungen als geführte und gehaltene, viel off balance mit gekippter Körperachse, fliegende und geführte Arme. Dazu mitunter durchaus ironisierendes Posieren.
Szene aus „Approximate Sonata 2016“. Foto: Yan Revazov
Geschmeidig und innig
Bemerkenswert ist, dass hier das traditionelle Verhältnis von Frauen und Männern im Tanz nicht aufgehoben wird. Auch bei Forsythe weisen die Bewegungen von Armen und Beinen in eine scheinbar unendliche Weite. So wird das Publikum geschickt auf die choreografische Arbeitsweise des Choreografen eingestimmt, mit seinen Bewegungsmotiven und -themen vertraut gemacht. Herausragend ist der Pas de deux von Polina Semionova und Gregor Glocke. In diesem besonderen Paar, das sonst vielleicht nie zusammengefunden hätte, begegnen und ergänzen sich bemerkenswerte Expressivität und stupende Virtuosität. Geschmeidige Eleganz in der Bewegung trifft auf innigliche Zärtlichkeit im Ausdruck. Das Publikum verfolgt all das interessiert und beeindruckt.
Bei „One Flat Thing, reproduced“ werden zwanzig rechteckige Tische von den Tänzer:innen selbst symmetrisch auf dem vorderen Bereich der Bühne positioniert. Platz zum Tanzen ist zwischen ihnen und auf ihnen. So wird also in den nun bekannten Bewegungsmustern geschoben, gezogen, gestoßen – und das sehr gekonnt; oder eben hinten stehend oder unter dem Tisch liegend gewartet. Die Choreografie ist durchaus unisex – alle tanzen alles mit allen in kunterbunten Kostümen. Ein Zuschauer meinte, das sei „Das fliegende Klassenzimmer“. Tatsächlich erinnert das sich Gebärden der Tänzer:innen zu der scheppernden anschwellenden Klangkulisse von Thom Willems an eine außer Rand und Band geratene Gruppe von Schüler:innen. Das Publikum ist begeistert.
Vom Experiment zurück zum Altbekannten
Höhepunkt des Abends ist fraglos „Blake Works I“. Tänzerinnen und Tänzer in hellblauen Kostümen – nur ein Mann trägt dunkle Hose und grünes Shirt – agieren zu Songs von James Blake. Und hier scheint der Choreograf nach allem Experimentieren mit den Möglichkeiten und Unmöglichkeiten, Erweiterungen und Begrenzungen des klassischen Tanzes wieder zu seinen Wurzeln zurückgekehrt zu sein.
Szene aus „Blake Works I“. Foto: Yan Revazov
Zur menschlichen Stimme „sprechen“ die Tänzer:innen mit ihren bewegten Körpern. Es sind im Ausdruck eher melancholisch anmutende Songs, zu denen sie sich bewegen. Verweise auf Vorbilder aus der Tanzgeschichte scheinen mitunter durch. Man glaubt, eine modernisierte „Serenade“ von George Balanchine zu erleben oder eine Gruppe ausgeflogener „Blauer Vögel“ von Marius Petipa. Alles in allem hochemotional. Der letzte Pas de deux mit Polina Semionova und Martin ten Kortenaar endet musikalisch mit der Text-Zeile: „How wonderful you are“. Das fasst diesen Abend aufs Treffendste zusammen. Das Publikum steht, jubelt, ist aus dem Häuschen.
Preisung des William Forsythe
Zu erleben ist an diesem Abend der künstlerische Weg des William Forsythe vom Experimentieren, Dekonstruieren und Neukombinieren des klassischen Bewegungsvokabulars in Duos. Es geht über die rasante Anwendung seiner Bewegungs-Erfindungen in wilden Gruppenformationen bis hin zur Rückbesinnung auf den Ausdruck des menschlichen Körpers im Zusammenklang mit Text und Musik. William Forsythe wurde im Vorfeld dieser Premiere als Ballettgroßmeister, als einer der kreativsten und innovativsten Erneuerer der Ballett-Tradition und sogar als König des Balletts tituliert. Dem scheint nichts mehr hinzuzufügen zu sein. Außer vielleicht: For ever!