Foto: Sarah Alexandra Hudarew in "Kindertotenlieder" © Ingo Hoehn
Text:Tobias Gerosa, am 9. September 2018
Musiktheater
Luzern
Luzerner Theater
Benedikt von Peter
Tobias Gerosa
Matthew Herbert
Gustav Mahler
Kindertotenlieder
Um 8.33 Uhr putzen sie die Zähne. Lange lagen der Mann und die Frau während des Einlasses da schon auf dem kahlen Bretterboden der Box, die seit der Intendanz von Benedikt von Peter zwischen dem (zu kleinen, engen) Theater und der Jesuitenkirche steht. Marton Ágh hat den schnörkellosen Kubus jetzt leergeräumt und lichtschluckend schwarz abgehängt. Scheinbar lose stehen die Stühle, auf die jeder der lediglich etwa hundert Zuschauer persönlich geführt wird, denn es ist dunkel und still. Nur in der Mitte brennt eine dünne Kerze. Gewöhnen sich die Augen an die Lichtverhältnisse, werden Notenständer, Instrumente und schließlich auch die Ausrichtung aller Stühle auf dieses Zentrum erkennbar.
Wo beim Einlass Zeilen aus Friedrich Rückerts Kindertotengedichten gebeamt waren, stehen jetzt nur noch Zeitangaben, von 8.33 bis 16.05 Uhr – knapp ein Arbeitstag, aber diese Normalität gibt es für die beiden Menschen, die da liegen, nicht mehr. Es sei „Der Tag, an dem sie einen Sarg kaufen gehen“, sagte die letzte Einblendung vor dem eigentlichen Beginn. „Ein zukunftsgerichtetes Projekt“ nennen Benedikt von Peter, sein Chefdirigent Clemens Heil und der englische Soundtüftler Matthew Herbert diese ihre Inszenierung von Gustav Mahlers „Kindertotenliedern“, die wohl noch mehr Installation als Inszenierung ist. Eine knappe halbe Stunde dauert dieser Liedzyklus an sich, in Luzern wird daraus eine gute Stunde.
Was zu Mahler kommt, ist sprachloses Warten, ist szenisch die Lähmung und Leere der Eltern, die ihre Kinder verloren haben. Herbert unterlegt es hörspiel- und ambientartig mit Alltagsgeräuschen, das Leben klingt wie von außen in die dunkle Box herein. Aber kein Wort, kaum ein Blick zwischen dem Mann und der Frau. Was sie bewegt, drücken Mahlers fünf Lieder aus, die in einer Fassung für 13 Instrumente (welche gerade im kleinen Raum die Holzbläser heraushebt) erklingt, die hier immer wieder aus anderen Richtungen kommen: interessant. Die Musiker des Luzerner Sinfonieorchesters, inklusive Dirigent, bewegen sich mit ihren Instrumenten und Notenständern zwischen den Stücken traumwandlerisch und mit abgedeckter Notenbeleuchtung zwischen dem Publikum, beanspruchen mal einen der Sitzplätze oder legen sich mit den Sängern auf den Boden.
Das äußere Setting und die ruhige, eben auch die Instrumentalisten umfassende Personenführung schafft große, fast sakrale Konzentration. Durch sie bekommt auch die Musik Intensität – wobei Mahler und Herbert nur auf dem Programm gleichrangig nebeneinanderstehen. Glücklicherweise verzichtet Regisseur von Peter fast ganz darauf, die ausgedachte und angedeutete Handlung im engeren, bebildernden Sinn zu inszenieren. Aber eben nur fast, und das ist eines der Probleme dieses anregenden, aber doch problematischen Abends.
Zunächst ergibt sich wenig musikalischer Zusammenhang, weil Mahlers Zyklus von den neuen Klängen und Soundlandschaften in Einzelnummern aufgesprengt wird. Die Wendung zum letzten Lied und auch dessen finale Modulation verlieren ohne direkten Zusammenhang an Wirkung und Aussage. Wie füllen Opernsänger auf Tuchfühlung mit ihrem Publikum diese langen Gesangspausen? Man ist so nah an den beiden Luzerner Ensemblemitgliedern Sarah Alexandra Hudarew und Jason Cox, dass das Setting der sprachlosen Eltern die Identifikation mit der Rolle geradezu erzwingt. Die Aufteilung der Gesangspartien innerhalb der Lieder verstärkt dies noch. Passt das zur sublimierten, reflektierten Traurigkeit von Rückert und Mahler? Als hätten von Peter und Herbert, die gemeinsam fürs Konzept zeichnen, das geahnt, fügen sie auf einer zusätzlichen Ebene eine als Hasen verkleidete Kinderfigur ein. Rätselhaft spricht sie vor dem Einlass seltsame Sicherheitshinweise ins Megaphon, ebenso rätselhaft schlägt sie nach den letzten Tönen Mahlers mit schwerem Hammer die Wand der Box raus auf die Reuss ein, lässt Licht, Luft und Leben herein – geht aber wieder weg. Die Eltern müssen ihr sprachloses Gefängnis selber verlassen. Es wäre offenbar möglich. Durch Mahlers Musik vielleicht, die nach den letzten Fetzen der Soundcollage von draußen noch hereindringt.
Sie wollten die Stille der Zurückgebliebenen spürbar machen, schreibt von Peter auf dem Programmzettel. Man tritt beeindruckt und berührt aus der dunklen Box zurück ins Stadtleben. Aber man beginnt sich dann auch zu fragen, ob Mahler/Rückert, das hergeben. Am Tag davor schon stand im Luzerner Theater der Tod im Zentrum, Viktor Bodo versuchte ihn in „Im Amt für Todesangelegenheiten“, einer von Klaus von Hayenaber komponierten „Slapstickoper“ mit Komik zu bannen, verzettelt und verulkt sich dabei aber ohne Zentrum. Der Tod ist nicht einfach zu fassen. Dass es das Luzerner Theater mit der Spielzeiteröffnung gleich zweimal mutig und ohne Sicherheitsnetz versucht, ist trotzdem bemerkenswert.