Foto: Eva Resch (im Vordergrund) als Sopran singende Sara © Armin Smailovic
Text:Roland H. Dippel, am 16. Mai 2022
Zu Beginn: gehetzter Atem, verzerrte Gesichter – zwei Frauen in Raumzellen einer futuristisch anmutenden Kapsel. Sie schlagen mit Beinen und Armen, krümmen sich, zwischen Beinen fließt dickes Blut. Ein böser Trip – wozu? Zwei andere junge Frauen gesellen sich zu den beiden: Dana zu Dana (Maria Munkert mit Johanna Greulich) und Sara zu Sara (Jessica Higgins mit Eva Resch). Zwischen den Komplementärdarstellerinnen kommt es immer wieder zu Verschmelzungen. Da erst beginnt aus dem Nichts ein geräuschhaftes Ziehen – es dauert etwas bis zur Schärfung eines klingenden Tons.
So beginnt die Partitur von „The Damned an the Saved“, die siebte und letzte Uraufführung der diesjährigen Münchner Biennale. Das in Anführungszeichen gesetztes Motto-Versprechen „Good Friends“ erweist sich in den meisten Vorstellungen als Ironie und manchmal sogar als zynisch. Immerhin sind Dana und Sara einander treue Gefährtinnen, sogar wenn sie über Oppositionsstrategien gegen den großen „Data Collector“ unterschiedlicher Meinung sind. Dieser sammelt menschliche Gedanken im digitalen Meta-Speicher und verrührt sie, um die üppige Pampe dann wieder auszuteilen.
Dopplungen überall
Auch Musiker:innen treten in Doppelung auf, freundlicher und etwas schlichter als die von der Dystopie gezeichneten Spielfiguren: Zwei Perkussionisten mit Donnerblechen und Klappen, dann wandern zwei Bassklarinettisten durchs Geschehen. Sie begleiten „Pain and suffering“ von Dana und Sara. Dieses echte Musiktheater bewegt sich an der Schnittstelle zur Performance. Fast kulinarisch lenkt es mit Sympathie für die Hässlichkeit von B-Movies und Comics vom Text ab. Pat To Yan (in dieser Spielzeit Hausautor am Nationaltheater Mannheim, hat das englische Libretto kreiert. Seine Sprachbilder wirken mitunter stärker als die dramatische Entwicklung. Seine drastische Poesie kommt nicht aus dem artistischen Drogennebel der amerikanischen Beatniks, aber William S. Burroughs ist als geistiger Ahnherr präsent.
Die beiden verdoppelten Frauen sind Opfer und Rebellinnen gegen einen totalitären Staat. Nach ihrem langen konvulsivischen Pantomime-Prolog schreiten sie aus den mit Blech ausgeschlagenen Folterstuben zum Gegenangriff. Die eine etwas nachdenklicher, die andere offensiver. Johanna Greulich und Eva Resch mausern sich zu Superfrauen mit virtuosen Sopran-Waffen, ihre Begleiterinnen bleiben eher zurückhaltende Geschöpfe. Zusammen sagen sie dem Daten sammelnden Tyrannen den Kampf an. Der ist ein cooler, sich etwas vernachlässigender Nerd mit blonder Langhaar-Mähne und brutalen, manchmal sogar überzeugenden Reden (Matthias Breitenbach). Ihn begleitet als „Dream Interpreter“ ein luftgeisterndes Wesen mit poetischer Rede, athletischem Bariton und artistischer Potenz (Ilya Lapich). Tatsächlich denkt man bei der vorsätzlich kruden Ausstattung von Sabine Kohlstedt an Shakespeares Phantasiestück „Der Sturm“ aus Perspektive der „Rocky Horror Show“.
Die dystopische Zukunft ist dreckig, die Ausdrucksmittel dafür virtuos. Die Regisseurin Sandra Strunz genießt ihre Gewaltvisionen. Es ist effektvoll, wenn frau die Kelle schwingt und Blutflecken auf weißen Dessous mit zähflüssigen Schokolade-Massen besudelt. Laut Text die allersüßeste Versuchung für eine Epoche, die „wohl niemand lieben wird“. Diese Biennale-Uraufführung wird in der Muffathalle üppig bejubelt und gerät zum riesigen Erfolg, Wahrscheinlich auch deshalb, weil man keine Moralappelle absitzen musste. Die obszönen Bewegungen der Frauen in ihren fleischfarbenen Trikots sind im derzeitigen Biedermann-Flair schon fast mutig. Die wirre Ästhetik erweist sich auch dann noch tragfähig, als die Befreiungsrebellion minimal blässer wurde.
Kreations- und Produktionsteam funktionierten harmonisch: Pat To Yan beschäftigte sich schon in seiner Frankfurter Uraufführung von „Eine posthumane Geschichte“ mit Menschsein in der Zukunft. Die schwedische Komponistin Malin Bång, deren „concerto for inside piano and orchestra“ gerade erst bei den Wittener Tagen für neue Kammermusik uraufgeführt wurde, erhielt 2018 den Orchesterpreis der Donaueschinger Musiktage. Beide zusammen erzählen im Mit- und Gegeneinander mehr, als in ihren Einzelkünsten möglich wäre. Sie nutzen die Steigerungsmöglichkeiten der Synergien von Text und Ton. Malin Bång handhabt das Arsenal ihrer musikalischen Mittel souverän, auch mit kluger Ökonomie. Damit zwingt sie die Orchestermitglieder des Nationaltheaters Mannheim zur vibrierenden Interaktion mit dem Bühnengeschehen. Damit schafft sie für Nicole Berry mit Damian Chmielarz (Licht) und Sebastian Schottke (Klangregie) kreativitätsfördernde Arbeitsbedingungen. Bångs nichtmaterielle, komponierte Choreographie ist auf gleicher Höhe wie die physische durch Ted Stoffer, dessen Arbeit an Körpern und Gegenständen das kleine Orchester einschließt.
Am wenigsten zu tun hat scheinbar der Dirigent Rei Munakata. Dabei bringen seine filigranen Handreichungen das Instrumentarium erst in einen Fluss. Er selbst steht wie eine Statue im Wellenspiel der geräuschhaften Klänge und wird so zum Fels in der Brandung dieses betont schmuddeligen Rebellinnen-Märchens.
Sattes Können, intensive Spiellust
Aschentonnen, Fenstersiebe, Metalltrommeln werden zu Instrumenten und Requisiten. Die Musiker klopfen auf die Celli-Körper, sie vokalisieren und rufen. Das ist schon ganz nahe an Mouth Percussion. Bångs Musik verhält sich zu der in ihrer Rauheit sogar schönen Materialausstattung subtil. Einige Fortissimi steigern sich zu Lärm-Ornamenten. Faszinierender geraten die leisen Töne und Klangschatten wie das Sägen, Scharren, Schaben im Pianissimo des Beginns. Die Komponistin organisiert ihre asketische Musik wie kalligraphische Schönheiten. So entwickelt sie eine tragfähige Spannung für die Vokalpartien und dramatischen Aktionen, wenn auch grobkörniger als etwa Salvatore Sciarrino. Musik und Text bedingen und veredeln sich zum Glitzern einer aufgerauten Metallplatte, die man im Licht wendet.
Dieser Abend tut unheimlich gut wegen seiner sehr bewusst gehandhabten Mittel und der deshalb gelungenen Crescendi aus Bewegungen und Geräuschen. Vor allem aber, weil physische Körper expressiv und mimisch etwas wagen. Die artifizielle Hässlichkeit versöhnt mit so manchen kürzlich erlebten Spielchen des neuesten Musiktheaters, welche die moralische Anstalt Theater in erster Linie als moralische Gängelanstalt für bevormundete Besucher:innen verstehen. Die Mitwirkenden dieser starken Opera Horror Show dagegen laufen in der Verbindung von Katastrophe und Entertainment mit sattem Können und intensiver Spiellust zur Höchstform auf.