Foto: Ludwig Mittelhammer, Chor und Statisterie des Staatstheaters am Gärtnerplatz in "Jonny spielt auf" © Christian POGO Zach
Text:Klaus Kalchschmid, am 12. März 2022
Am 16. Juni 1928 kam es zu einem der größten Theaterskandale Münchens: Da die Bayerische Staatsoper dankend abgelehnt und das Deutsche Theater die Aufführungsrechte nicht bekommen hatte, wurde Ernst Kreneks „Jonny spielt auf“ – seine „Zeitoper“ von 1926, die ein gutes Jahr zuvor in Leipzig uraufgeführt worden war – erstmals in München am Gärtnerplatztheater gespielt. Schon während der Proben hatte es Drohungen gegeben und trotz Polizei vor und im Theater, die von diffamierenden Verlautbarungen des „Völkischen Beobachters“ gewarnt und vorbereitet war, kam es zu Störungen der Premiere und lautstarken Protestaktionen „halbwüchsiger Burschen“ mittels Stinkbomben, Knallerbsen und Niespulver. So musste die Aufführung mehrfach unterbrochen werden. Aber am Ende gab es demonstrativ großen Beifall.
Fast hundert Jahre später ist Kreneks angebliche „Jazz-Oper“ endlich wieder in München zu sehen. Und wieder am Staatstheater am Gärtnerplatz! Vor Beginn der Vorstellung tritt Intendant Josef Köpplinger vor den Vorhang und gibt bekannt, dass es einmal im Jahr eine Benefizveranstaltung an seinem Haus geben darf und er heute die Entscheidung bekommen habe, dass alle Einnahmen der Premiere zugunsten der Ukraine-Hilfe gehen.
Doch der Abend wird auch deshalb denkwürdig, weil Regisseur Peter Lund, Bühnenbildner Jürgen Franz Kirner sowie Kostümbildnerin Daria Kornysheva sich mehrfach auf die Münchner Erstaufführung beziehen, also auf die 1920er-Jahre. Da spielt etwa die Stummfilm-Ästhetik von „Das Cabinet des Dr. Caligari“ (1920) und „Nosferatu“ (1921), sowie der Bergfilm Arnold Fancks herein. Sogar Sigmund Freud hat seinen virtuellen Auftritt samt Patient auf der Couch. Der Chor trägt Mode der Entstehungszeit und der aufkommende Nationalsozialismus ist stets greifbar, ohne dass je ein Hakenkreuz zu sehen wäre. Aber gleich zu Beginn ist groß in altdeutschen Lettern auf dunkelrotem Grund projiziert: „Seht euch das an! / Urteilt selbst / Besucht die Aufführung / Jonny spielt auf / Die Schande von München“. Später schwebt ein überdimensional großer Volksempfänger über der Bühne, aus dem nicht nur Jonny mit seiner Geige tönt, sondern auch leibhaftig herausschaut.
Der Geige würdig
Zur Handlung: In der Einsamkeit der Berge sucht der Komponist Max (Alexandros Tsilogiannis) Ruhe und Inspiration. Dahin hat sich auch Anita (Mária Celeng) vom nahe gelegenen Hotel verirrt. Die beiden werden ein Paar, aber schon bald getrennt. Im Hotel residieren auch der Geigenvirtuose Daniello (Mathias Hausmann), der amerikanische Jazzband-Musiker Jonny (Ludwig Mittelhammer) und Yvonne, das Zimmermädchen (Judith Spießer). Sie hat nicht nur eine Affäre mit Jonny, der Daniello die teure Amati stielt, sondern ist auch mittels eines Rings die Überbringerin von Eifersucht zwischen Max und Daniello. Denn Anita hat mit beiden eine Affäre.
Am Ende ist der Geiger tot, Max und Anita besteigen den Zug nach Amsterdam und „Jonny spielt auf“ mit seiner Geige, die er „als Naturprinzip und Urkraft“ zu Recht Daniello – dem „eitlen, hohlköpfigen Betriebmacher, der mit dem kostbaren, aber verwaisten Erbgut unserer künstlerischen Kultur wuchert“ – gestohlen hat. Der ist als „geistiger Hochstapler unwürdig […] der edlen Amatigeige, die er handhabt“, so der Komponist selbst. Als Jonny in der 6. Szene (dem Höhepunkt der Oper) gerade die Geige an sich genommen hat, erklingt der Song „Swanee River“ in einer eher schrägen Choralbearbeitung: „Jetzt ist die Geige mein, / und ich will drauf spielen, / wie old David einst die Harfe schlug, / und preisen Jehova, der die Menschen schwarz erschuf.“ Worauf sich auf der Bühne des Gärtnerplatztheaters die Menge um ihn versammelt und ihn vielstimmig „Schande!“ rufend vertreibt. So steht es natürlich nicht in der Partitur Kreneks, ist aber innerhalb des Beziehungsrahmens dieser Inszenierung absolut schlüssig.
Spielfreude und Bühnenzauber
Gesungen und gespielt wird allenthalben auf hohem Niveau. Faszinierend etwa, wie Maria Celeng als mondäne Schönheit in irisierendem Glanz à la Schreker und Korngold mit einem Schuss Alban Berg schwelgt. Auch Alexandros Tsilogiannis gibt als Max in Haartracht, Maske und weitem Mantel eines Stummfilm-Helden überzeugend den verquält tenoral auftrumpfenden Künstler. Judith Spießer ist als Zimmermädchen eine wunder freche Komödiantin, die – und das ist als großes Lob gemeint – die perfekte Soubrette! Ludwig Mittelhammer spielt unter seiner dezidierten schwarzen Schminke und mit seinen getänzelten Bewegungen bewusst mit dem Klischee des schwarzen Musikers jener Zeit. Und er singt ihn mit herrlich leichtem, aber durchaus gehaltvollem Kavaliersbariton genauso „positiv“ – allerdings wie ihn Krenek zeichnet, seiner erotischen und eigentumsmäßigen Übergriffigkeit zum Trotz als Gegenbild zur bestehenden europäischen Weltordnung des Jahres 1927. Wenn er am Ende triumphiert, ist alle Schminke ab und aus Jonny ein Mann von heute geworden.
Komponiert zwischen der herben, modernen Version des Orpheus-Mythos von 1923 („Orpheus und Eurydike“) und der durchaus effektvollen Zwölfton-Oper „Karl V.“ (1930-33), ist „Jonny spielt auf“ ein großartiger Stilmix. Alles ist da: Operette, Oper, Tanzmusik, Jazz-Allusionen, Populärmusikalisches. manchmal hintereinander, manchmal miteinander verschmelzend oder bewusst gegeneinander gestellt. Und das Orchester des Gärtnerplatztheaters, bewandert gleichermaßen in Musical, Operette und Oper, ist unter Michael Brandstätter geradezu perfekt für das Stück.
Großartig, wie die verschiedenen Ebenen im wunderbar variablen Bühnenbild, das sich sekundenschnell auch dank Licht (Michael Heidinger), Projektionen und Video (Raphael Kurig und Meike Ebert) vom Gang eines Verwaltungstrakts oder Gerichtsgebäudes, in dem die Protagonisten von der Polizei bewacht werden, immer wieder in die verschiedenen Schauplätze der Oper wandelt. Tempo und Timing sind perfekt, Slapstick, Überzeichnung und die Ausstellung großer Gefühle wechseln virtuos. Selbst kleinere Partien, wie Holger Ohlmann als Manager, grotesk ausgestopft als wäre er ein knatschgrüner Obelix, oder Mathias Hausmann als Daniello sind exzellent besetzt und haben einen Riesenspaß an dem, was Regisseur Peter Lund mit ihnen erarbeitet hat.
Man spürt in jedem Moment, dass „Jonny spielt auf“ keine Patina angesetzt hat, obwohl Neuinszenierungen der letzten zehn Jahre europaweit an einer Hand abzuzählen sind, wie das ergiebige Programmheft ausweist. Es faksimiliert im Übrigen auch die detaillierten Polizeiakten zu den Störungen der Erstaufführung und lässt den Komponisten ausführlich über sein Werk zu Wort kommen. Dabei ist diese Oper bei allem Anspruch an die Hauptpartien ideal für mittlere Häuser, vor allem solche mit mehreren Sparten.