„Schnee Weiss“ scheint ein, zumindest für Jelinek-Verhältnisse, besonders theateraffines Poem zu sein. Zumindest hat der Kölner Schauspielintendant Stefan Bachmann definitiv einen guten Weg gefunden, den Text für das Theater zu öffnen. Wobei ihm die einfache und dabei sehr phantasievolle Bühnenkonstruktion von Jana Findeklee und Joki Tewes eine tolle Vorlage gibt.
Thema des Stücks sind die Missbrauchsvorfälle und –würfe gegen den Trainerstab des österreichischen Skiteams, virulent geworden durch öffentlich gemachte Aussagen von Nicola Werdenigg, unter ihrem Geburtsnamen Spiess vierte im Abfahrtslauf bei den Olympischen Spielen 1976. Dafür haben Findeklee und Tewes einen allerliebsten Idiotenhügel gebaut, auf dem zu Beginn zwei Akteurinnen und zwei Akteure mutmaßlich genau choreographiert und unaufgesetzt spielwütig in Skiklamotten und auf Brettern herumtollen. Das Thema ist gesetzt. Es ist eine große Stärke der Aufführung, dass man ihr ohne Vorbereitung folgen kann, sogar wenn man Oskar Panizzas „Liebeskonzil“ und Euripides‘ „Bakchen“ nicht kennt, auf die sich der Text immer wieder bezieht.
Wie immer holt die Autorin weit aus, frühstückt gleich ihren Hass auf den Sport an sich und seine Dominanz des Fernsehprogramms und das Doping mit ab. Hauptkriterium des Textes ist die Parallel- oder sogar Engführung von Sport und Religion, aus der Bachmann und sein hervorragend aufgelegtes Ensemble viele kostbare Brosamen der Komik destillieren. Ja, es ist tatsächlich über weite Strecken unterhaltsam, dieses Spiel, das einem Wutschnauben und klare, unangenehme Gedanken und Wahrheiten mit einem Lächeln in die Synapsen brennt. Auf die Skifahrer-Allotria mit der bemerkenswert zwanglos in das Text-Monster hineingeglitten wird, folgt über ein nicht eins zu eins dechiffrierbares Bild mit einer großen Kuh ein langer Monolog eines an einen Ski wie an ein Kreuz gefesselten Christus. Peter Knaack macht daraus eine gewaltige Glanznummer, ein cool irisierendes Pointengewitter.
Später bewegen die Spieler die Bühne von Muskelkraft um 180 Grad und es erscheint eine Höhle. In dieser erhebt sich – ein Kopf, ein Ausstellungsstück irgendeines Völkerkundemuseums und spricht zum Thema. Auch hier scheint die Setzung nicht zwingend, aber Stefan Bachmann hat mit dem formidablen Simon Kirsch etwas draus gemacht, was allein für sich genommen spannend ist. Und der Bezug zum Thema stellt sich trotzdem her. Immer wieder. Wie von selbst. Sabine Waibel hat authentisches Österreich in der Stimme und semmelt es immer wieder urkräftig dazwischen. Lola Klamroth ist groß und souverän, schlägt ihre Gliedmaßen clownesk durcheinander und kann doch ganz plötzlich glaubhaft und berührend Missbrauchsopfer sein. Und dann hat Margot Gödrös ihren großen Auftritt. Als Gott, die Herrin, im Rollstuhl und mit Schweizer Akzent. Wieder eine neue Farbe, wieder findet sich – oder wird gefunden – die Scharfstellung aufs Thema.
Das Ende verwirrt, im Text wie auf der Bühne, also in großer Konsequenz. Zwei Frauen ermorden einen Koreaner auf einem Flughafen durch Gift. Ein Racheakt der geschundenen Frau an sich? Hier gibt es keine offensichtliche Verbindung, klafft ein Krater im Textblock. Und Bachmann schminkt ihn nicht zu, lässt nur Peter Knaack lange und elegant, in leicht überhöhtem Realismus dahingehen.
Die alte Dame vom Semmering hat uns also wieder bereichert mit ihrer funkelnden Wut. Stefan Bachmann hat sich als sensibler und offensiver Uraufführungsregisseur gezeigt. Seine Arbeit wirkt vor allem durch das ungewöhnlich lebendige, sehr präzise Spiel und die Konzentration der Mittel. Das eine oder andere Maskenspiel hätte es da gar nicht gebraucht. Bewiesen ist: „Schnee Weiss“ ist Theaterfutter, nicht nur ein typischer sondern auch ein starker Jelinek-Text. Er soll viel nachgespielt werden.