Foto: Szene aus "Amerika" an der Württembergischen Landesbühne Esslingen © Patrick Pfeiffer
Text:Manfred Jahnke, am 14. Januar 2023
Neben „Corpus delicti“ von Juli Zeh oder „Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull“ von Thomas Mann gehört auch „Amerika (Der Verschollene)“ von Kafka zu den gegenwärtigen Abiturthemen in Baden-Württemberg. Kein Wunder, das auf vielen – oder doch: fast allen – Bühnen des Landes diese Titel in den Spielplänen zu finden sind. Während es noch relativ einfach zu sein scheint, Juli Zeh oder Thomas Mann ins dramatische Medium zu transformieren, so fällt es bei Kafka schwer. Denn sein 16-jähriger Held Karl Roßmann entwickelt kaum eigene Aktivitäten. Er wird vielmehr zum Spielball der anderen, von seinem Onkel Jacob, von den Landstreichern Demarche und Robinson oder von Oberköchin und Portier im Hotel Occidental. Selbst das Engagement am Theater Oklahoma, wo er am Ende zur technischen Hilfskraft herabgestuft wird, macht mit ihm nicht wirklich etwas. Karl Roßmann ist wie ein Punchingball: er geht immer wieder zu Boden, steht wieder auf, um wieder zu Boden zu gehen …
Dass Karl Roßmann nicht zulässt, dass die Begegnungen mit diesem ihm fremden Welten etwas mit ihm machen, liegt auch daran, dass er die Geschehnisse um sich herum emotionslos aufnimmt – was für eine dramatische Spannung nicht gerade hilfreich ist. Alexander Müller-Elmau, der seine 2008 veröffentlichte Fassung schon am Düsseldorfer Schauspielhaus erprobte, versucht nun an den Württembergischen Landesbühnen Esslingen mit choreografisch entwickelten Bewegungsmustern und Gesten das Spiel in Bewegung zu setzen. Im düsteren Raum (den er selbst gestaltet hat) – erleuchtet von neun Stalllampen, die aus unterschiedlicher Höhe herabhängen – stolpert das Ensemble über auf den Boden liegende Kabel. Ein wahrhaftiger Kabelsalat, der in zwei kleinen Häufchen sich türmt: ein unwirtlicher Ort, der keine positiven Gefühle aufkommen lässt, rundherum mit schwarzen Aushängen eingehüllt, nach hinten abgeschlossen mit silberner Folie. Eine Leiter auf der rechten Seite, ein Hochstuhl, ein Podest und ein Stuhl links vorne, alles in seiner schäbigen Materialität belassen, werden zu den Handlungsorten, das Ensemble ist zumeist komplett auf der Bühne.
Spannungsreiches Spiel
Gleich zu Beginn hasten die Schauspielerinnen und Schauspieler im stummen Spiel über die Bühne, um die Hektik bei der Ankunft des Schiffes in New York anzudeuten. So baut Müller-Elmau immer wieder starke Bilder auf, in denen sich das Ensemble in die Kabel verwickelnd und stolpernd bewegt, sich neu sortiert, auf der Leiter lungert, auf den Hochstuhl kraxelt, sich auf den Kabelhaufen schmeißt: Das Ensemble ist immer in Bewegung. Erst recht bei den vielen Prügelszenen, in denen Karl Roßmann nach und nach um seine persönlichen Sachen kommt, erst den Koffer auf dem Schiff, den er nach dem Rauswurf durch den Onkel wiederbekommt – und wieder verlustig geht. Nach den Schuhen verliert er sein Jackett mit seinen Papieren, wobei mit der Zeit die Prügeleien einen immer stärkeren homoerotischen Charakter annehmen, ohne dass diese Berührungen etwas mit dem jungen Mann machen.
Zu dieser Bewegung entwickelt Müller-Elmau ein starkes Repertoire an Handgesten, die ihren Höhepunkt finden, wenn das Ensemble gemeinsam die Hand aufs Herz legt und so gemeinsam zur spannungsgeladenen Ruhe kommt. Denn Hektik entsteht auch durch einen weiteren Kunstgriff der Regie: Bis auf Daniel Großkämper, der den Karl Roßmann verkörpert, spielen alle anderen Darstellerinnen und Darsteller mehrere Rollen. Der Sprung von einer Rolle in die andere findet manchmal auf der Bühne statt. Da es dabei keine großen Kostümwechsel gibt, brauchen die Zuschauer:innen einen kleinen Augenblick, um den Wechsel zu registrieren, obschon im körperlichen Ausdruck und/oder in der sprachlichen Gestik bei den einzelnen Figuren nuanciert wird. Müller-Elmau zwingt das Publikum zum genauen Hinsehen.
Im braunen Anzug, hellem Hemd und hellbraunen, fast gelben Schuhen (Kostüme: Katrin Busching) führt Daniel Großkämper einen in die fremde Welt geworfenen Menschen vor, nicht staunend, auch nicht in absolut stoischer Ruhe, sondern die Sache nehmend, wie sie gerade kommt. Das macht er mit starker Präsenz, wobei winzig kleine Gesten andeuten, dass da doch ein kleiner Vulkan in ihm brodelt, den er aber nicht zum Ausbruch kommen lassen kann. Sabine Bräuning spielt unter anderem die Großköchin – eigentlich die einzige Figur, die sich Gefühle leistet. Fast mütterlich sorgt sie sich um Karl, assistiert von Kristin Göpfert beispielsweise als Therese, die nach dem Freitod ihrer Mutter eine Heimat sucht. Antonio Lallo spielt neben dem prinzipientreuen Onkel und den aasigen Oberkellner, der Karl aus dem Hoteldienst entlässt, den Franzosen Demarche als brutalen Mann von der Straße, der weiß, wie es dort zugeht. Markus Michalik steht ihm als der Ire Robinson nicht nach, ein bisschen spielen sowohl Lallo als auch Michalik den Tramp von Charlie Chaplin (manchmal auch Dick und Doof) – nur in ihrem Ausdruck viel brutaler, weil ohne Hoffnung. Felix Jeiter spielt die moderierenden Rollen wie den Kapitän oder den Bankier Pollunder, der junge Reyniel Ostermann die kleinen Rollen wie Liftjunge oder die Fanny, die als Engel mit der Trompete die Bewerber des Theater Oklahoma empfängt.
Eine gelungene Inszenierung, die zwar nicht das grundlegende Problem der mangelnden dramatischen Spannung umschiffen kann, aber mit einem gestischen Repertoire beeindruckt und zum Hinsehen zwingt.