Foto: Starker Beginn in partnerschaftlicher Isolation - das Ensemble in „Atem“ © Isabel Machado Rios
Text:Andreas Falentin, am 4. September 2020
Wer dächte beim Titel „Atem“ im Jahr 2020 nicht sofort an die furchtbare Pandemie, die gerade ihren Griff zumindest um Deutschland etwas zu lockern scheint, an Atemnot, -geräte und Intensivstationen. Das Darmstädter Team um den (gemeinsam mit Nadia Beugré) Regie führenden Intendanten Karsten Wiegand hat dieses Projekt zwar als Reaktion auf den Corona-Lockdown entwickelt, ist aber offensichtlich in anderen Assoziationsräumen unterwegs. Im schmalen Programmzettel beruft sich Wiegand auf den letzten Satz des im Mai in Minneapolis ermordeten George Floyd: „I can’t breathe“. „Atem“ als Lebensenergie und Lebensraum – und als Luft. Immer wieder wird an dem knapp 140-minütigen, pausenlosen Abend auf den Titel angespielt, atmet jemand in eine PET-Flasche, pustet einer einen Luftballon auf, wird per Video eine Lunge oder ein Kind im Mutterleib projiziert. Auch die Bläser des Staatsorchester nimmt man im Laufe des Abends immer stärker als Nutzer und Verwandler von Luft wahr.
Fünf jeweils als Konzertinstallation dargebotene Musikstücke bilden das Zentrum: Ein unbekanntes Finale von Schumann mit stehenden Musikern hinter Schlafenden; Morton Feldmans „Rothko Chapel“ mit vertikal angeordneten Musikern, Solisten und Choristen; „The unanswered question“ von Charles Ives als unsichtbarer, akustisch gestaffelter Klangraum; Zu „Urlicht“ aus dem Schlusssatz von Mahlers zweiter Sinfonie, hinreißend gesungen von Lena Sutor-Wernich, erwachen Menschen aus dem Schlaf. Das in jeder Hinsicht aufregendste Stück ist das erste im Ablauf: „Dona Nobis Pacem“ von Galina Ustwolskaja, ein Trio für Piccoloflöte, Tuba und Klavier, ein Stille erbrechendes Klangwunder, schlicht überwältigend musiziert von Solisten des Staatsorchesters Darmstadt. Zuerst die Tuba, scheinbar inspiriert von Wagners „Siegfried“-Fafner: ziellos mäandernd und doch irgendwie gefährlich. Aus einem gewaltigen Loch fährt das Trio nach oben, jeder Ton atmet Relevanz. Bis ein Tänzer mit einem Einkaufswagen auf die Bühne kommt und Totenschädel auf die Bühne stellt.
Denn die unter der Leitung des jungen GMD Daniel Cohen, mit leichten Abstrichen bei der momentweise wackligen „unanswered question“, auf höchstem Niveau musizierten Stücke sind von Improvisationen umgeben. Gesangssolistinnen und -solisten, Choristinnen und Choristen treffen hier auf ein fulminantes, von Nadia Beugré choreographiertes Tanzensemble. Die Bewegungsmuster sind verspielt, eigenwillig, faszinierend in ihrem sehr individuellen Mix aus Break-, Street- und Afrodance. Aber sie verbinden sich nicht mit den großformatigen Musikstücken und den eigenwilligen Videos. Sie wollen klein und charmant bleiben und gleichzeitig mythisch und groß sein und nicht erzählen. Die so etablierte Symbolik bleibt selbstbezüglich abstrakt oder läuft wie die Bebilderung der Musikstücke flach ins Leere. Auch weil alle diese improvisierten Zwischen- (oder Haupt-?)-stücke zeitlich ausfasern, irgendwann statisch auf der Stelle treten. Es wirkt, als hätte das Regieteam sämtliche Angebote von sämtlichen Beteiligten für gut befunden und nur in Reihe geschaltet. Es fehlt Form, die Kunst – und Theaterspiel im Besonderen – existenziell benötigen.
Am Anfang scheinen wir noch in der „heilen“ Corona-Welt zu sein. Da wird die Bühne von einer vertikalen Anordnung von dreimal sieben Einzelzellen ohne Vor- und Rückwand dominiert. In ihnen angeordnet: das Ensemble, hier Zeitung lesend, da vor unterdrückter Energie platzend. Synergien entwickeln sich, gemeinsame Aktivitäten durch Wände, über Wände hinweg. Aha! Gemeinsam einsam? Zusammen allein? Darum wird es gehen? Dann steigen die Tänzer aus dem Zellentrakt aus und tanzen, mit Masken vor dem Gesicht wie alle Menschen, die sich an diesem Abend auf der Bühne nahekommen. Lange. Schön anzusehen. Wenn auch ohne jede Möglichkeit mimischen Ausdrucks. Aber warum?
Nach zehn Minuten beginnt die Sinnsuche in der Dunkelheit. Denn dunkel ist es durchgängig im Bühnenraum von Karsten Wiegand (warum nur?), der immer wieder die Funktionalität der Bühnentechnik vorzeigt, aber nicht, wie Johan Simons im Juni in Bochum mit Canettis „Die Befristeten“, einen leicht ironisierten Schönheitsrausch erzeugt. Die hellen, weiten Standardkostüme von Pascal Seibicke erinnern an den Stil von Peter Sellars. Da, wo er individuell gestalten, Menschen durch ihre Bekleidung aus dem Dunkel holen darf, stimmt viel. Genau wie das Engagement, die Lust an der gemeinsamen Gestaltung bei allen Beteiligten.
Aber worum geht es? Doch um Corona? Doch um George Floyd? Oder generell um fürchterliche Entwicklungen überall? Wo ist dann die Wut, der Widerspruchsgeist? Die Haltung, die durchscheint, stellt Wehmut und Gedenken ins Zentrum, findet sich in einer Poesie behauptenden, verspielten, aber erschreckend kraftlosen Melancholie. Daran ändert auch das in sich organisch entwickelte Weltmusik-Happening zum Ende nichts. „Setzt eure Masken auf und singt“, fordert uns der hier fantastisch singende Tenor Michael Pegher auf. „Victoire“ (Sieg) sollen wir Publikum singen und können es nicht, singen mit Masken, während wir in Corona-Standardordnung sitzen (jede zweite Reihe frei, jeweils drei Plätze zwischen einzelnen und Gruppen).
Am Ende applaudiert das über die ganze Zeit sehr konzentrierte Publikum höflich, teilweise mit Begeisterung, teilweise mit Erschöpfung. Und geht dann still hinaus in die Dunkelheit.