Erklärt wird kaum etwas, assoziativ springt Kittstein durch das Leben von Erika Mann, das dominiert wird vom Vater, dem „Zauberer“, der gar nicht so gut wegkommt. Viel scheint durch, Missbrauch, Dominanz, Enge, Abhängigkeit. Ein komplexes Konstrukt aus Vorlagen und Vorwissen. Wer sich nicht auskennt mit der Familie Mann, könnte allerdings verloren gehen in diesem Insiderspiel, das zudem mit Möglichkeiten spielt, nicht nur mit Realitäten. Vieles vermischt sich: Fiktion und Biographie, Roman und Erinnerung, Traum und Wirklichkeit, der Junge und Aschenbach in Venedig, die Tochter und der Vater, die Geschwister. Alles wird auf gewisse Weise eins. Jochen Noch wird zu Aschenbach, der Hauptfigur aus Manns „Tod in Venedig“, und bleibt doch auch dessen Autor: „Da geriet mir mit dem Leben wohl die Rolle durcheinander. Was, wie du mir zugibst, weit entfernt von Mangelhaftigkeit, im Gegenteil für mein Talent, mich ganz in etwas zu versenken, Signum ist.“
Raum und Zeit verschwimmen, Erzählung und Form fließen an diesem Abend ineinander. Und da die Form so ausgeklügelt ist, rückt die Erzählung ein wenig in den Hintergrund. Bernardo Arias Porras, Katharina Bach, Svetlana Belesova und Jochen Noch spielen die dichten Szenen in wechselnden Konstellationen. Immer zwei zusammen, parallel zu den anderen beiden. Das Publikum folgt, je nach gewählter Seite, erst dem einen Handlungsstrang am Zürichsee, dann dem zweiten in Venedig. Dann wechselt die Perspektive, die Szenen wiederholen sich. Im Hintergrund sieht man das eben Gesehene und Gehörte noch einmal wie einen entfernten Stummfilm. Was hier entsteht, ist ein ausgetüfteltes Spiel mit verschiedenen Ebenen, von denen immer eine herangezoomt wird. Jeder Satz, jede Begegnung ist präzise getimt: Man hört nur, was man hören soll, die Szenen enden zeitgleich, um nahtlos ineinander überzugehen. Einzeln treten die Figuren aus ihren Glaskästen, eine wirkliche Begegnung oder Nähe kommt nicht zustande, was natürlich an den strengen Corona-Vorgaben liegt, in diesem Kontext aber durchaus realistisch ist. Diese Familie war keine zum Kuscheln.
Die Kammerspiele zeigen mit diesem Abend, dass Stream-Theater nicht eine Notlösung sein muss, sondern ganz eigene Möglichkeiten bietet, Theater und Film, Live-Moment und technische Finesse zu etwas Neuem verbinden kann. Ein paar Mal bricht die Übertragung ab, was schade ist, aber passieren kann. Denn Mikeska und sein Team gehen voll ins Risiko. Und erschaffen so die Spannung eines echten Theaterabends im Wohnzimmer. Zumindest fast.