Foto: "Gespenster" an den Münchner Kammerspielen © Heinz Holzmann
Text:Anne Fritsch, am 21. Januar 2021
Beim Ticketkauf kann man wählen, auf welcher Seite man sitzen möchte: links oder rechts. Fast wie im richtigen Theater. Entsprechend ändert sich die Perspektive aufs Geschehen. Die Münchner Kammerspiele wagen sich an ihre erste Livestream-Premiere und begnügen sich nicht damit, eine Aufführung einfach ins Internet zu übertragen. Vielmehr konzipiert das Kollektiv RAUM+ZEIT die Uraufführung von „Gespenster – Erika, Klaus und der Zauberer“ speziell für dieses neue Medium, spielt mit der räumlichen Wahrnehmung und dem Live-Aspekt. RAUM+ZEIT, das sind die Dramaturgin Juliane Hendes, der Autor Lothar Kittstein, Regisseur Bernhard Mikeska und Bühnenbildnerin Steffi Wurster. Wie der Titel ahnen lässt, beschäftigen sie sich in ihrem neuen Projekt mit der Familie Mann, vor allem mit Erika, Klaus und dem übermächtigen Vater Thomas.
Vier Glaskästen stehen in der Therese-Giehse-Halle, dem Neuen Haus der Kammerspiele. In jedem von ihnen ein Spieler, eine Spielerin. Vereinzelte, mit sich und auch in sich Gefangene. Eine Kamera umkreist sie, bleibt irgendwann bei Svetlana Belesova stehen. „Das ganze Haus ist totenstill“, sagt sie. „Und leer. Und dunkel.“ Ein Traum vom abwesenden Vater in Venedig. Ein kleines Mädchen, das durch das Tor sieht. Ein toter Bruder. Lothar Kittstein verdichtet die Familientragödien, von denen es in dieser Sippe reichlich gibt, zu einem assoziativen Konzentrat, einem klaustrophobischen Leben. „Dein Bruder ist gestorben. Und du fährst nicht hin. Weil Vater es verboten hat?“, fährt Belesova als Erika fort. Und: „This is the wizard’s house. Hier muss man leise sein, besonders um die Mittagszeit.“ Die Disziplin, die Thomas Mann sich – und seiner Familie – abverlangte, ist hinlänglich bekannt. Hier sieht man die Folgen, die kaputte Familie, eine Ansammlung von Gespenstern.
Erklärt wird kaum etwas, assoziativ springt Kittstein durch das Leben von Erika Mann, das dominiert wird vom Vater, dem „Zauberer“, der gar nicht so gut wegkommt. Viel scheint durch, Missbrauch, Dominanz, Enge, Abhängigkeit. Ein komplexes Konstrukt aus Vorlagen und Vorwissen. Wer sich nicht auskennt mit der Familie Mann, könnte allerdings verloren gehen in diesem Insiderspiel, das zudem mit Möglichkeiten spielt, nicht nur mit Realitäten. Vieles vermischt sich: Fiktion und Biographie, Roman und Erinnerung, Traum und Wirklichkeit, der Junge und Aschenbach in Venedig, die Tochter und der Vater, die Geschwister. Alles wird auf gewisse Weise eins. Jochen Noch wird zu Aschenbach, der Hauptfigur aus Manns „Tod in Venedig“, und bleibt doch auch dessen Autor: „Da geriet mir mit dem Leben wohl die Rolle durcheinander. Was, wie du mir zugibst, weit entfernt von Mangelhaftigkeit, im Gegenteil für mein Talent, mich ganz in etwas zu versenken, Signum ist.“
Raum und Zeit verschwimmen, Erzählung und Form fließen an diesem Abend ineinander. Und da die Form so ausgeklügelt ist, rückt die Erzählung ein wenig in den Hintergrund. Bernardo Arias Porras, Katharina Bach, Svetlana Belesova und Jochen Noch spielen die dichten Szenen in wechselnden Konstellationen. Immer zwei zusammen, parallel zu den anderen beiden. Das Publikum folgt, je nach gewählter Seite, erst dem einen Handlungsstrang am Zürichsee, dann dem zweiten in Venedig. Dann wechselt die Perspektive, die Szenen wiederholen sich. Im Hintergrund sieht man das eben Gesehene und Gehörte noch einmal wie einen entfernten Stummfilm. Was hier entsteht, ist ein ausgetüfteltes Spiel mit verschiedenen Ebenen, von denen immer eine herangezoomt wird. Jeder Satz, jede Begegnung ist präzise getimt: Man hört nur, was man hören soll, die Szenen enden zeitgleich, um nahtlos ineinander überzugehen. Einzeln treten die Figuren aus ihren Glaskästen, eine wirkliche Begegnung oder Nähe kommt nicht zustande, was natürlich an den strengen Corona-Vorgaben liegt, in diesem Kontext aber durchaus realistisch ist. Diese Familie war keine zum Kuscheln.
Die Kammerspiele zeigen mit diesem Abend, dass Stream-Theater nicht eine Notlösung sein muss, sondern ganz eigene Möglichkeiten bietet, Theater und Film, Live-Moment und technische Finesse zu etwas Neuem verbinden kann. Ein paar Mal bricht die Übertragung ab, was schade ist, aber passieren kann. Denn Mikeska und sein Team gehen voll ins Risiko. Und erschaffen so die Spannung eines echten Theaterabends im Wohnzimmer. Zumindest fast.