Foto: Marlis Petersen als grandiose Feldmarschallin in „Der Rosenkavalier“ © Wilfried Hösl
Text:Joachim Lange, am 22. März 2021
Nicht erst in der Pandemie – aber da besonders – behauptet die Staatsoper in München beharrlich ihren Spitzenplatz unter den deutschen Premiumhäusern. Durch die Nutzung gutausgestatteter Archive etwa, vor allem aber mit „richtigen“, sprich für bessere Zeiten repertoiretauglichen Neuproduktionen. Dass eine Münchner Opernpremiere live am Bildschirm mitverfolgt werden kann, hat bei den bajuwarischen Kartenpreisen gleich noch eine soziale Komponente. In Zeiten publikumsfreier Vorstellungen ist eine Übertragung überlebensnotwendig. Sie macht eine hausinterne Kunstanstrengung erst zum Ereignis! Nachdem „Die Vögel“ von Braunfels vor nahezu und „Der Freischütz“ vor komplett publikumsfreiem Zuschauerraum über die Bühne (und die heimischen Bildschirme) gingen, war jetzt „Der Rosenkavalier“ an der Reihe.
Für Opernfreunde mehr als ein Schmankerl. Was Strauss und Hofmannsthal dem genussbereiten Publikum als ein Wien Maria-Theresias auftischten, also wie es hätte sein können, aber nie war, das ist hohe Schule einer kongenialen Melange aus Dichtung und Komposition. Mit eigens kreierter Sprache (die damit hoffentlich resistent gegen jede Form des grassierenden Neusprech-Eifers ist) samt einer Rezeptionsgeschichte, die mit den legendären Sonderzügen zur Dresdner Premiere von 1911 beginnt. Und hoffentlich nie endet. Das Atmosphärische und die Komödie sind das eine. Die philosophische Dimension um die vergehende Zeit, die „richtige“ Art zu lieben, aufflammende Leidenschaft (bei Octavian und Sophie) und Grandezza des Herzens (bei der Marschallin, die auf ihn zu Gunsten der Jüngeren verzichtet) sind das andere. Für das (nennen wir es mal) Herzens-Verständnis dieser Dimension schadet ein gewisses Mindestalter nicht. Dabei muss für die wilhelminische Moral vor allem der erste Akt starker Tobak gewesen sein. Eine Fürstin, die sich einen halb so alten Liebhaber hält, während ihr Mann im Feld ist, das hätte ziemlich schief gehen können. Aber das Publikum hörte schon damals bereitwillig über vieles einfach hinweg.
Für die Ablösung einer fünfzig Jahre alten Otto-Schenk-Inszenierung mit Kultstatus einen Regisseur wie Barrie Kosky zu verpflichten und dem designierten GMD Vladimir Jurowski das Pult im Graben zu überlassen, das passt zu der Balance aus Entdeckerfreude und Lust auf den Erfolg, für die der scheidende Intendant Nikolaus Bachler steht.
Für Kosky ist das Ganze ein Spiel mit der Zeit. Hier ist die Zeit nicht nur ein sonderbar Ding – wie die Marschallin so berührend singt –, sondern aus den Fugen. Die Zeiger der Standuhr drehen sich rückwärts, das Zifferblatt schwebt, die Marschallin setzt sich auf das Pendel. Auch sonst haben der Regisseur und sein Team (Bühne: Rufus Didwiszus, Kostüme: Victoria Behr) aparte Einfälle. Wie den Wechsel der Perspektiven. Im ersten Akt trotzt die Marschallin ihre Liebe zu Octavian und damit ihre Freiheit den dunklen, sich gelegentlich verschiebenden prunkvollen Wänden ihres Schlafzimmers sichtbar ab. Nur beim Auftritt des Tenors Galeano Salas als barocker Miniinszenierung ist ein Licht im Dunkel. Im zweiten Akt sind die in Petersburger Hängung zugepflasterten Wände des Palais‘ des neureichen Faninal eine Art Gefängnis, gegen das Sophie rebelliert. Im dritten Akt schließlich ist das Wirtshaus ein kleines Theater, in dem Octavian und sein Regieassistent Valzacchi ihre Intrige mit dem (in-)diskreten Charme der Bourgeoisie inszenieren. Denn wie in Luis Buñuels Filmklassiker findet man sich nicht nur an einer Tafel zusammen, um zu essen, sondern auf einer Bühne, um verlacht zu werden.
Wenn dieser Vorhang für die Marschallin auffliegt und die plötzlich im Zuschauerraum sitzt, dann bleibt ihr wenigstens dieser Auftrittscoup. Man hat aber selbst da das Gefühl, dass Kosky den bewährten dramatischen Effekten des Stückes mit dem Furor der Erneuerung vors Schienbein treten will. Zur Überreichung der Silberrose – die auch so ein Moment ist, der das Potenzial hat, den Atem stocken zu lassen – fährt immerhin eine Silberkutsche in den Galeriesaal der von Faninals. Mit Anleihen bei der Kitschvorliebe von Bayernkönig Ludwig II. und gut vorstellbar als Zuckermodell im Schaufester des K.u.K. Hofzuckerbäckers Demel in Wien. Auf dem Kutschbock sitzt der gealterte Cupido, den die Protagonisten nicht sehen müssen. Wir aber schon als personifiziertes Leitmotiv immer wieder. Wirkt wie die boshafte Karikatur eines gealterten Frank Castorf, ersetzt den kleinen aus dem Stück gecancelten Mohamed, kommt als Doktor, streut Liebesglitzer, wenn es schon gefunkt hat, und darf am Ende den Zeiger aus der großen Standuhr brechen, wenn das Liebespaar im wahrsten Wortsinn in den Himmel ihrer Liebe (oder der Illusion von Ewigkeit) entschwebt ist. Dieses Spiel mit der Zeit liest sich als Idee gewitzter, als es auf der zumindest auf dem Bildschirm oft einfach zu dunklen Bühne wirkt.
Bei Kosky stimmt natürlich die Personenregie im Detail. Auch wenn er sich wie beim Baron Ochs und bei Faninal für überdrehten Aktionismus entscheidet. Christof Fischesser ist ein optisch auf Krawattenträger heruntergedimmter, durchaus attraktiver Baron mit fabelhaft vitaler stimmlicher Präsenz. Auch der wie immer souveräne Johannes Martin Kränzle überzieht nur für Augenblicke ins Alberne. Hier fügt sich auch Daniela Köhler als Leitmetzerin ein.
Schauspielerisch auf Kabinettstück-Niveau und zudem exzellent artikulierend sind Wolfgang Aiblinger-Sperrhacke und Ursula Hesse von den Steinen als Valzacchi und Annina. Für die Glanzlichter des Abends sorgen allerdings die drei grandiosen Damen. Marlis Petersen rückt diese Feldmarschallin nahe an die Gegenwart und lässt vokal den Vollbesitz ihrer Möglichkeiten aufstrahlen. Sie weiß, was sie singt, und macht das atemberaubend. Spielerisch ohne jede (alt- oder neumodische) Hosenrollenpeinlichkeit ist Samantha Hankey ein sich im Timbre wunderbar abhebender Octavian; die von Anfang an selbstbewusst daherkommende Katharina Konradi als Sophie ist eine ideale Komplettierung – nicht nur im gemeinsamen Terzett! Vielleicht liegt es an der reduzierten Orchesterfassung mit 43 Musikern, die Eberhard Kloke als Konzession an die Pandemie erstellt hat, aber die dreifache und dann noch einmal doppelte Stimmpracht der Damen leuchtet selten so zum Dahinschmelzen auf wie in diesem „Rosenkavalier“. Den Protagonisten wäre der Jubel des Premierenpublikums auf jeden Fall sicher gewesen.
Die Inszenierung ist ab 22. März 2021, 19 Uhr, für 30 Tage als Video on Demand abrufbar.