Foto: Szenenfoto mit dem Ensemble bei der Wormser Uraufführung von "Überwältigung". © David Baltzer
Text:Björn Hayer, am 13. Juli 2019
Play Repeat. Alles auf Anfang. Noch einmal zurück zur Stunde Null des zum deutschen Nationalepos erhobenen Nibelungenlieds. Noch einmal zurück hinter all die Machenschaften am Burgundenhof, hinter den Verrat an den Königinnen und die perfide Ermordung des Drachentöters. Während die Figuren des Originalstoffs kaum dem Fluch entrinnen können, gewährt ihnen Thomas Melle in seinem Stück „Überwältigung“ eine zweite Chance. In der Uraufführung bei den diesjährigen Festspielen vor dem Wormser Kaiserdom ist es Ortlieb (Lisa Hrdina), Kriemhilds Sohn, der aufbegehrt gegen das finstere Schicksal seiner Familie. Der Abend beginnt mit Siegfried, geht den Weg über dessen Hochzeit mit Kriemhild (Kathleen Morgeneyer) und die Bezwingung der nordischen Herrscherin Brünhild (Inga Busch) in der Nacht nach der Trauung mit Gunther, über Hagens Intrige bis hin zum Massaker durch den Hunnenkönig Etzel. Gemeinsam mit einem Spielmann (Edgar Eckert) streift Ortlieb verschiedene Stationen jener Untergangsstory, versucht das Unvermeidliche aufzuhalten und den eigenen Tod zu verhindern.
Soweit die Idee, die als Denkexperiment noch ihren Reiz haben mag. Zur Inszenierung taugt sie jedoch nur bedingt. Jenseits einer Nacherzählung mit diversen Reflexionsmomenten des Jugendlichen liefert das Werk keinerlei neue Perspektiven auf den alten Mythos. Um wohl die eher magere Textbasis zu überspielen, zieht Regisseurin Lilja Rupprecht sämtliche Register eines effekthascherischen Theaters: Mit Glitzerkostümen ausgestattete Statisten verkörpern Siegfrieds Drachen, Brunhild schlüpft in einen überdimensionierten Reifrock, der sie emporschweben lässt. Auf der mit weißem Stoff hergestellte Kulisse, die an Eis- und Mondlandschaft gleichermaßen denken lässt, gibt es Videoprojektionen, in denen Blitz und Regen die Katastrophe ankündigen. Nachdem Ortlieb vermeintlich seinen Mörder Hagen umgebracht und damit symbolisch die Jagd auf sich beendet hat, huschen derweil noch Trickfilmfüchse über die Bühne. Selbst zwei Funken sprühende Babypuppen bekommen wir zu Gesicht, auf die Brünhild und Kriemhild, beide jeweils auf ihre Art vom Drachentöter verraten, ihren Konflikt übertragen. Viele solcher Bilder laufen ins Leere oder muten ungewollt komisch an. Und wer der Show noch nicht überdrüssig ist, verzweifelt am Kitsch so mancher Dialoge. Amouröse Bekenntnisfloskeleien wie „Mein Wunder bist du“ oder „Schönheit ist das Versprechen auf Liebe“ sind an Plumpheit nicht zu überbieten.
Dabei spürt man in einigen Augenblicken, dass Melle und Rupprecht es eigentlich besser können. Zum Beispiel in der Anlage des Hagen-Charakters, der über sich selbst treffend sagt: „Ich bin die Achse, die alles Falsche zum Richtigen verdreht.“ Überhaupt lässt die schauspielerische Leistung des ihn mimenden Klaus Maria Brandauer über einige inszenatorische Schwächen hinwegsehen. „Was bin ich anders als eure Funktion?“, fragt er in einem starken Monolog das Publikum. Letztlich wolle es doch jedes Mal nur erneut das Blutspektakel sehen. Und auch manche Geste erweist sich als pointiert. Bevor Kriemhild ihren Siegfried in Hagens Falle laufen lässt, umarmt sie ihn, wobei sie orangene Farbe auf seinem oberen Rücken, seiner verletzlichsten Stelle, verteilt. Indem sie damit überdies ihr Kleid abstreift, haften Blut und Schuld an ihr.
Was vermittelt die Traumlandschaft Ortliebs, eines Jungen im rot befleckten Pyjama, der weder selbst sterben noch seine Eltern verlieren will? Was hinterlässt diese gleißend weiße Bühne, die gegen Ende an einer Stelle in das leere Innere einer Gerüstkonstruktion blicken lässt? Vor allem ein Meta-Theater, das versucht, erhellende Aussagen aus einem Spiel mit alternativen Optionen zu ziehen, die doch größtenteils ins Nichts münden. Aus der titelgebenden „Überwältigung“ ist nur eine Ahnung geworden – von einer markerschütternden Tragik, die an diesem Abend einfach nur Erzählung bleibt.