Mehrere Autoren, darunter Jakob Wassermann in „Der Fall Maurizius“, haben den Aufsehen erregenden Kriminalfall aufgegriffen. Bernd Schroeder stützt sich auf umfangreiches Quellen- und Archivmaterial, und Rudi Gauls Baden-Badener Inszenierung erweckt die Gerichtsakten zu neuem Leben. Presseberichte und Briefe, Zeugenaussagen, Dokumente der Gerichtsmedizin und die Einlassungen der Prozessparteien erhalten ein personales Gesicht, werden von den Protagonisten, die jeweils in verschiedene Rollen wechseln, mit charakteristischen, allzu menschlichen Zügen ausgestattet. Auf die Bühnenrückwand projizierte Videos machen die erkundeten Originalschauplätze (einen mediterranen Strand, die Kurparkstaffel in Baden-Baden, Paris, Karlsruhe, das Bruchsaler Zuchthaus) sichtbar. Allerhand Montagen und Zeitüberblendungen verdichten auf der Bühne die nie ganz aufgeklärte Moritat zu einem dramatisch-spannenden Plot. Sinnfällig mit Akten-Konvoluten bestückte Regalwände rahmen den Bühnenraum ein (Ausstattung: Olga Motta). An einfachen Untersuchungs- und Verhandlungstischen sowie auf einem in den Zuschauerraum reichenden Bühnensporn agieren die Mimen.
Als amouröser Hochstapler (im schicken Nadelstreifen), als Angeklagter und als Gefängnisinsasse (in halblanger, schmutzig-weißer Unterhose und mit Metall-Gesichtsmaske ausstaffiert) steht Mattes Herre in der Rolle des Carl Hau im Zentrum des Bühnengeschehens. Überzeugend gelingen ihm die Rollenwechsel, die er mit großem Pensum zu leisten hat – mal als flirtender Liebhaber zwischen Lina und Olga, mal als arroganter, in Rechtssachen versierter Beschuldigter im Prozess, der seine Unschuld beteuert und Aussagen verweigert, oder als leidender Strafgefangener in Einzelhaft mit marschmäßigen Bewegungsauflagen beim Hofgang.
Die Grande Dame des Baden-Badener Theaters, Rosalinde Renn, verkörpert mit sensibler Einfühlung die autoritären und gleichzeitig unterwürfig-obrigkeitshörigen Charaktere der Wilhelminischen Kaiserzeit im Part des Gerichtspräsidenten, eines ermittelnden Polizeikommissars und als sezierender Gerichtsmediziner im anatomischen Institut, aber auch als vom eleganten Auftreten Carls eingenommene Schwiegermutter. Nadine Kettler ist mal Lina (im unschuldigen weißen Unterröckchen), die sich auf erotische Anmache versteht, mal eine nebulöse Zeugin vor Gericht, Staatsanwalt oder Journalist. Maria Thomas spielt mit agiler Präsenz und flunkerndem Mädchen-Charme (im schwarzen Unterröckchen) Olga, aber auch andere Haupt- und Nebenfiguren.
Die alle Akteure unglaublich fordernde, fast dreieinhalb Stunden beanspruchende Inszenierung hält den Spannungsbogen, auch wenn es nach der Pause zu übertrieben turbulenten Szenenwechseln und einigen überflüssigen Längen kommt. Jedenfalls interessiert man sich im Badischen und darüber hinaus dank dieses Theaterereignisses erneut für den spektakulären „Fall Hau“.