Foto: Spektakulärer "Fall Hau": Mattes Herre als Carl Hau, Maria Thomas, Rosalinde Renn und Nadine Kettler. © Jochen Klenk
Text:Eckehard Uhlig, am 10. November 2019
Für das Theater bearbeitete Erfolgsromane sind auf unseren Schaubühnen en vogue. Und besonders reizvoll, wenn das Genre einen Kriminalfall mit regionalem Flair und schillerndem Lokalkolorit behandelt. Bernd Schroeders 2006 erschienener Roman „Hau“, der jetzt in einer Textfassung und in der Regie von Rudi Gaul als „Der Fall Hau“ am Theater in Baden-Baden seine Uraufführung erlebt, bietet einen solchen Stoff par excellence.
Im Mai 1901 lernt der 1881 geborene Jurastudent Carl Hau in Ajaccio auf Korsika bei einem Erholungsaufenthalt Josefine, die wohlhabende Witwe des Baden-Badener Medizinalrates Franz Molitor, und deren beide Töchter Lina und Olga kennen. Er verliebt sich in die sechs Jahre ältere Lina und flieht mit ihr in die Schweiz, wo die beiden die Heiratserlaubnis ihrer Mutter und seines Vaters erzwingen. Das Paar wandert zusammen mit dem bald geborenen Töchterchen in die USA aus. Von dort aus spiegelt Carl der Baden-Badener Verwandtschaft (und seiner Frau) eine großartige Juristen-Karriere vor. 1906 trifft sich das Ehepaar mit Schwägerin Olga, deren mit Eifersüchteleien verbundene Beziehung zu Carl zweideutig bleibt, in Paris. Briefe, in denen Lina hohe Geldsummen von ihrer Mutter fordert, ominöse Telegramme und Telefonanrufe leiten noch im selben Jahr den verwickelten Tathergang ein, in dessen Ergebnis Carls Schwiegermutter Josefine, in Begleitung ihrer Tochter Olga aus ihrer Villa gelockt, am 6. November gegen 17.20 Uhr in Höhe der Baden-Badener „Lindenstaffeln“ von hinten erschossen wird. Im folgenden, vor dem Schwurgericht des Landesgerichts Karlsruhe verhandelten, von der internationalen Sensationspresse begleiteten Indizienprozess, der in der badischen Residenz regelrechte von Polizei und Militär in Zaum gehaltene Volksaufläufe auslöst, wird Carl Hau 1907 als Mörder zum Tode verurteilt und vom Großherzog zu lebenslanger Zuchthaushaft begnadigt. Seine Frau Lina, die noch während der Verhandlungen Selbstmord begeht, hatte ihn der Tat beschuldigt. 1924 kommt Hau vorzeitig frei, veröffentlicht zwei Bücher über seinen Prozess und stirbt 1926 auf der Flucht vor neuem Haftbefehl per Suizid in Tivoli bei Rom.
Mehrere Autoren, darunter Jakob Wassermann in „Der Fall Maurizius“, haben den Aufsehen erregenden Kriminalfall aufgegriffen. Bernd Schroeder stützt sich auf umfangreiches Quellen- und Archivmaterial, und Rudi Gauls Baden-Badener Inszenierung erweckt die Gerichtsakten zu neuem Leben. Presseberichte und Briefe, Zeugenaussagen, Dokumente der Gerichtsmedizin und die Einlassungen der Prozessparteien erhalten ein personales Gesicht, werden von den Protagonisten, die jeweils in verschiedene Rollen wechseln, mit charakteristischen, allzu menschlichen Zügen ausgestattet. Auf die Bühnenrückwand projizierte Videos machen die erkundeten Originalschauplätze (einen mediterranen Strand, die Kurparkstaffel in Baden-Baden, Paris, Karlsruhe, das Bruchsaler Zuchthaus) sichtbar. Allerhand Montagen und Zeitüberblendungen verdichten auf der Bühne die nie ganz aufgeklärte Moritat zu einem dramatisch-spannenden Plot. Sinnfällig mit Akten-Konvoluten bestückte Regalwände rahmen den Bühnenraum ein (Ausstattung: Olga Motta). An einfachen Untersuchungs- und Verhandlungstischen sowie auf einem in den Zuschauerraum reichenden Bühnensporn agieren die Mimen.
Als amouröser Hochstapler (im schicken Nadelstreifen), als Angeklagter und als Gefängnisinsasse (in halblanger, schmutzig-weißer Unterhose und mit Metall-Gesichtsmaske ausstaffiert) steht Mattes Herre in der Rolle des Carl Hau im Zentrum des Bühnengeschehens. Überzeugend gelingen ihm die Rollenwechsel, die er mit großem Pensum zu leisten hat – mal als flirtender Liebhaber zwischen Lina und Olga, mal als arroganter, in Rechtssachen versierter Beschuldigter im Prozess, der seine Unschuld beteuert und Aussagen verweigert, oder als leidender Strafgefangener in Einzelhaft mit marschmäßigen Bewegungsauflagen beim Hofgang.
Die Grande Dame des Baden-Badener Theaters, Rosalinde Renn, verkörpert mit sensibler Einfühlung die autoritären und gleichzeitig unterwürfig-obrigkeitshörigen Charaktere der Wilhelminischen Kaiserzeit im Part des Gerichtspräsidenten, eines ermittelnden Polizeikommissars und als sezierender Gerichtsmediziner im anatomischen Institut, aber auch als vom eleganten Auftreten Carls eingenommene Schwiegermutter. Nadine Kettler ist mal Lina (im unschuldigen weißen Unterröckchen), die sich auf erotische Anmache versteht, mal eine nebulöse Zeugin vor Gericht, Staatsanwalt oder Journalist. Maria Thomas spielt mit agiler Präsenz und flunkerndem Mädchen-Charme (im schwarzen Unterröckchen) Olga, aber auch andere Haupt- und Nebenfiguren.
Die alle Akteure unglaublich fordernde, fast dreieinhalb Stunden beanspruchende Inszenierung hält den Spannungsbogen, auch wenn es nach der Pause zu übertrieben turbulenten Szenenwechseln und einigen überflüssigen Längen kommt. Jedenfalls interessiert man sich im Badischen und darüber hinaus dank dieses Theaterereignisses erneut für den spektakulären „Fall Hau“.