Text:Georg Rudiger, am 18. Juli 2019
Er ist schon etwas in die Jahre gekommen. Der Kopf kahl, die zerfurchten Hände erzählen von einem langen Leben. Rigolettos Augen sind geschlossen, während der freche Höfling Borsa (Paul Schweinester) auf seinem Kopf tanzt und Faxen macht. Dann setzt Giuseppe Verdis Musik ein mit dem dissonanten Fluchmotiv, dem die Wiener Symphoniker unter Enrique Mazzola die notwendige Schärfe geben – und Rigoletto dreht den Kopf, reißt seine Augen und seinen Mund auf und erstarrt in diesem Schockzustand. Der Narr weiß schon, dass dieser Abend nicht gut enden wird. Sein Lächeln ist blankem Entsetzen gewichen.
Dieser Bregenzer Rigoletto besteht aus Holz, Fassadenputz, Styropor und Farbe. Seine Nase hat man aus Kunststoff geformt. Sein Kopf, montiert auf einer 35 Meter langen Stahlwippe, ist 13 Meter hoch und 9 Meter breit. In seiner linken Hand hält er einen Ballon. Seine rechte ist sehr beweglich und kann auch mal einen Stinkefinger zeigen, wenn sein Vorgesetzter, der Herzog von Mantua, auf Frauenjagd geht. Rigolettos Kragen ist die Hauptbühne, die Manschetten werden als kleinere Spielflächen genutzt. Der Rest diesen Riesenclowns ist nicht zu sehen. Diese sinnliche, variable Bühnenbild von Regisseur Philipp Stölzl und Heike Vollmer ist die Hauptfigur dieser großartigen Bregenzer Neuproduktion auf der Seebühne. Stölzl haucht diesem mit zahlreichen Hydraulikpumpen gesteuerten Apparat Leben ein. Die Maschine wird beseelt und entwickelt sich mit der ersten Bewegung zu Rigolettos Alter Ego. Spott, Schmerz, Wut, Trauer, Nähe, Distanz – all das ist an diesem Bühnenbild (Licht: Georg Veit, Philipp Stölzl) abzulesen. Die organischen Bewegungen, häufig in Zeitlupentempo, entfalten eine magische Aura. Das ist keine spektakuläre, auf Event getrimmte Show – die Technik dient dem künstlerischen Ausdruck. Und ermöglicht eine Psychologisierung und Intimität, die man so auf der riesigen Seebühne seit der eindrücklichen „Tosca“-Produktion im Jahr 2007 nicht mehr gesehen hat.
Aber auch für die Massenszenen hat Stölzl das richtige Händchen. Der Zirkus ist die Welt, in der er Verdis Oper ansiedelt. Zur Introduktion sind nicht nur zwei Bandas auf der Bühne, sondern auch Feuerschlucker, Messerwerfer, Artisten und Gewichtheber. Dieses bunte Völkchen lässt aber nicht nur Leichtigkeit entstehen, sondern kann sich auch zur brutalen Schlägertruppe wandeln. Besonders vier Männer mit Affenmasken (Kostüme: Kathi Maurer) sorgen immer wieder für Schrecken. Der Herzog von Mantua ist ihr strenger Zirkusdirektor. Stephen Costello gibt diesem skrupellosen Frauenjäger mit seinem höhensicheren, strahlkräftigen Tenor das notwendige Standing. Und hat genügend Schmelz, um, als Student verkleidet, Rigolettos Tochter Gilda zu betören. Nur sein schön geschmettertes „La donna è mobile“, das er unter eine seltsam trashigen Choreographie von vier vielbrüstigen Frauen singen muss, wird szenisch verschenkt. Mit ihrem warmen, runden, farbenreichen Sopran zeigt Mélissa Petit Gilda als zwar eingesperrte, aber nicht gebrochene Frau, die durch die Begegnung mit dem Herzog ihre Fesseln verliert. Sie entschwebt mit dem Heißluftballon in den Bregenzer Nachthimmel, während sie in der Arie „Caro nome“ feinste Koloraturen modelliert und dabei sogar ein Bein aus dem Korb hängen lässt. Dass Rigoletto die Leine hält, sein Riesenkopf sich nach oben wendet und sie mit offenem Mund lüstern anstarrt, merkt sie nicht. Das höchst problematische Vater-Tochter-Verhältnis ist nur für den Zuschauer zu sehen. Dass Gilda dort oben von einem hochkletternden Stuntman des Wired Aerial Theatre (Leitung: Wendy Hesketh-Ogilvie) entführt wird und direkt im Mund von Rigoletto landet, führt die Geschichte auf spektakuläre Weise weiter. Im zweiten Akt bringen die Gaukler die Augen seines Kopfes als Trophäe mit. Rigoletto ist getäuscht und geblendet – und wird wenig später noch seine Nase und einige Zähne verlieren. Aus dem lächelnden Narr ist ein Totenkopf geworden.
Auch Vladimir Stoyanov hat als Rigoletto diese Bandbreite. Mit seinem markanten, geschmeidigen nur in der Höhe etwas gedrückten Bassbariton zeigt er ihn als liebenden, zerbrechlichen Vater, aber auch als rächenden, verblendeten Patron. Und wenn er und sein Alter Ego im Schlussbild nach dem Tod Gildas dem Heißluftballon nachschauen, der mit einer gleich kostümierten Frau in den Himmel steigt – und der Fluch ein letztes Mal ertönt – dann hat man Mitgefühl mit diesem gebrochenen Mann. Enrique Mazzola hält mit den Wiener Symphonikern die Balance zwischen federnder Leichtigkeit und dramatischer Schärfe. Großer Applaus für eine spektakulär berührende Produktion. Selbst nach dem Schlussakkord gehen der Regie die Ideen nicht aus. Der Scheinwerferspot wird von den Beteiligten über die gesamte Bühnenbreite pantomimisch hin- und hergeworfen, um einzelne Solisten ins Rampenlicht zu setzen. Nach dem düsteren Ende kehrt die unbeschwerte Zirkuswelt des Beginns wieder zurück – und der Bogen schließt sich.