Foto: Szenenbild aus der Jelinek-Uraufführung "Wut" mit Isabel Thierauch (auf den Leinwänden) © Judith Buss/Schauspiel Köln
Text:Andreas Falentin, am 28. September 2020
„Yvon“, sagt der Schauspieler Benny Claessens zu der Schauspielerin Yvon Jansen, „ich möchte dich jetzt sehr gerne umarmen. Aber das geht ja nicht.“ Beide fallen auf die Seite, die Musik geht noch etwas weiter. Fadeout. Ende.
Das ist tatsächlich ein ungewöhnlicher Schluss für die Inszenierung eines Jelinek-Textes, so leise und herzerweichend, mit unerbittlicher, aber sanfter Ironie. Und dann bei dem hier aufgeführten Text. Der heißt „Wut“ und stellt die Vorgänge um die bestialischen Anschläge auf die Charlie Hebdo-Redaktion und einen jüdischen Supermarkt 2015 in Paris in den Mittelpunkt. Warum geschieht so etwas? Wie kann es dahin kommen? Und vor allem: Wie kann jemand ein so plausibles, verstörendes Porträt dieser Geschehnisse schaffen, der eigentlich nur von zuhause aus arbeitet?
Die letzte Frage interessiert den Regisseur Ersan Mondtag offenkundig nicht zu sehr. Er hat Elfriede Jelineks Textflächen-Material auf gut 100 Minuten Redezeit geschrumpft und mit Bildern angereichert. Die Manipulation von Bildern, Sichtweisen und Zuschauern hingegen interessiert ihn. Zwei Leinwände rechts und links seines absurd-phantastischen Bühnenbildes sollen hier Methoden bloßlegen. Was allerdings zumindest nicht in jedem Moment verständlich wird. Das wiederum liegt sicher daran, dass die Leinwände neben den beiden gigantischen Greifvogelfüssen mit dem Ei zwischen den Klauen klein wirken. Zumal das Ei noch eine andere Seite hat, auf der die Bilder schnell wechseln (was besonders fasziniert, da im Carlswerk manuell „umgeräumt“ werden muss). Und natürlich lässt sich auch ein Jelinek-Text nicht einfach so auf die Seite schieben.
Dennoch ist „Wut“ ein wesentlicher Theaterabend. Denn Mondtags zweite Strategie, um „Wut“ bühnentauglich und –relevant zu machen, trifft ins Schwarze. Er schlägt mit seiner Textbearbeitung eine Brücke vom Terror des Jahres 2015 ins Heute, zu Covid-19 („Ich habe Angst, Angst, Angst…“), zum deutschen Theater im Allgemeinen („diese heterosexuellen, weißen Intendanten von über 70“), sogar konkret zum Schauspiel Köln und seinen aktuellen Arbeitsbedingungen („Meine Garderobe ist in Bonn!“). Die Konkretisierung geht soweit, dass Benny Claessens alle Schauspieler auf der Bühne mit ihren Klar-Vornamen anredet und irgendwann sogar mit Platzpatronen ins Publikum schießt und dabei runterzählt („130, 129, 128, nein, daneben…“). Auf diese Weise bricht Mondtag Jelineks Suada immer wieder auf, macht einzelne Teile verstehbar, bleibt dennoch im Fluss und versetzt das bekannte, in den antiken Mythen und der heutigen Medienlandschaft verwurzelte Anspielungs-Berserkertum der Autoren mit einer Unzahl eigener Zitate, vom „Exorzist“ über nationalsozialistische Bild-Ideologie bis zu einem letzten Abendmahl, bei dem Jesus einsam am Tisch sitzt. Dabei helfen ihm nicht nur die umwerfenden, von christlicher Mythologie (Gott, Teufel, Engel) und vielem anderem inspirierten Kostüme von Annika Lu Hermann, sondern auch die Doppeldeutigkeit des selbst entworfenen Bühnenbildes. Schaut der Muezzin oben raus, wird das Adler-Fahrgestell zum Minarett und das Beton-Ei lässt plötzlich an die neue Kölner Moschee denken…
Im Mittelpunkt der Inszenierung steht Benny Claessens als Held, als Handelnder, als Opfer, sozusagen als Mensch an sich. Er wälzt sich in seinem Text und dem Ensemble seiner Mitspieler, spricht, singt, bewegt sich brillant, charmant und hemmungslos. Seine Gegenfigur ist Margot Gödrös. Sie verkörpert, wie Ilse Ritter seinerzeit in der Hamburger Uraufführung von „Am Königsweg“ die Stimme der Autorin, ist aber auch göttliche Instanz, wird zu Beginn mit der Sänfte gebracht und später wieder abgeholt, und bleibt dabei immer bewusst Schauspielerin – und bewusst alt. Ihre Ausstrahlung misst sich mit der von Claessens; wo er sich den Raum nimmt, zieht sie ihn um sich zusammen. Dieser Antagonismus ist der theatrale Motor der Aufführung. In den Passagen, wo Yvon Jansen mit antikem Büstenkopf dazustößt, erweitert sich das Spannungsfeld zum Dreieck. In diesem finden Yuri Englert, Lola Klamroth, Nicolas Lehni, Elias Reichert, Philipp Joy Reinhardt und Isabel Thierauch mühelos ihren Spielraum. Ihnen allen merkt man an, dass am Schauspiel Köln nicht zum ersten Mal ein Text von Elfriede Jelinek gespielt wird. Die Texte werden nicht ins Leere gesendet, sondern mit einer Haltung versehen – und vor allem sprachlich bewältigt.
Die Monstrositäten der österreichischen Nobelpreisträgerin sind eine Zumutung für die Bühne und werden es hoffentlich bleiben. Man muss sich ihnen stellen und ihnen etwas entgegensetzen. Ersan Mondtag und seinem Ensemble ist das, trotz einigen Bild-Leerlauf, mit „Wut“ gelungen.