Foto: Szene aus Bruno Berger-Gorskis Inszenierung von Ella Milch-Sheriffs Kammeroper "Baruchs Schweigen" am Stadttheater Fürth. © Thomas Langer
Text:Dieter Stoll, am 15. Juni 2015
Die Geister, die zur Beschwörung der Vergangenheit gerufen wurden, sind gnadenlos. Sie verwandeln die zehn Gebote des Alten Testaments in zynische Überlebensregeln („Tu nur, was dir selbst nutzt, und opfere dich nicht für andere“), umschwirren die Überlebenden mit Hoffnungslosigkeit („Der Himmel ist leer“) und öffnen dabei den Zugang zu einer Lebensgeschichte, die im Schmerz versteinerte. So beginnt die Oper „Baruchs Schweigen“: Eine erwachsene Frau in Israel hält das Tagebuch ihres verstorbenen Vaters in Händen, das Testament des Mannes, den sie nie verstehen konnte, weil er ins abweisende Schweigen verfallen war. Erst jetzt, mit den einst auf der Flucht vor den Nazis im polnischen Versteck aufgekritzelten Tagebuch-Notizen in der Hand, bekommt sie Einblick in seine tragische Biografie mit der „ersten Familie“, die ermordet wurde. Mit dem Verständnis der Betroffenen wächst Szene für Szene parallel auch die Zuneigung des Zuschauers – mehr Nähe kann Theater kaum erreichen.
Die Musikerin Ella Milch-Sheriff, 1954 als Tochter in „zweiter Familie“ in Haifa geboren, erzählt ganz direkt aus ihrer späten Erfahrung. Es ist Eigentherapie und Aufklärung zugleich, denn sie wusste zu Lebzeiten des Vaters nichts von seinem Leid und hat danach, als sie seine in Gedanken vergrabenen Erinnerungen lesen konnte, geschworen, mit allen künstlerischen Mitteln davon zu erzählen. Es gibt inzwischen von ihr ein Buch („Ein Lied für meinen Vater“), eine große Kantate („Ist der Himmel leer?“) und Pläne für einen Dokumentarfilm. Die Oper, als Kunstform-Konstrukt im ungeklärten Reformzustand für diese außergewöhnliche Mischung aus individuellem Schicksal und naher Zeitgeschichte nicht ohne Risiko, entstand 2010 im Auftrag des Braunschweiger Theaters. Jetzt, nach der fünf Jahre später gewagten (und auf eindrucksvolle Weise geglückten) Inszenierung am Fürther Theater, fragt man sich verwundert, wieso das Werk nicht längst neben oder nach Zimmermanns „Die weiße Rose“ im Repertoire der Opernhäuser angekommen ist.
Die junge Regie-Autorin Yael Ronen schrieb, noch ehe sie mit „Dritte Generation“ an der Schaubühne und „Common Ground“ am Gorki-Theater ihren Karriere-Aufschwung in Deutschland hatte, das wie eine festgeklopfte Improvisation wirkende Libretto als therapeutische Sitzung mit Rollenverteilung, gleichzeitig als Vorführung eines theatralischen Heilungsprozesses für die fassungslose Tochter. Die Mutter („Wer nicht kann, muss auch nicht können“) ist hier beiläufig diskrete Regisseurin oder auch Medium bei der Beschwörung der Geister, der Vater („Und so hörte ich auf, ein Mensch zu sein“) kehrt zurück aus dem vermeintlichen Nichts für Erklärungen, die er zu seinen Lebzeiten verweigerte.
Die enorm vielfältige Komposition von Ella Milch-Sheriff fegt energisch alle Anwandlungen von Sentimentalität beiseite, sucht dabei aber das große Gefühl. Die bekennende Verehrerin von Kurt Weill arbeitet mit reicher melodiöser Phantasie und rhythmischer Schärfe, pflastert den Sound mit attackierenden Signalen und gibt Stimmen wie Musikern (vorzüglich: Dirigent Walter Kobéra von der Neuen Oper Wien und das immer wieder faszinierende Nürnberger ensemble KONTRASTE) jede Menge von dem Stoff, aus dem die Oper ist. Jenseits von Avantgarde-Ambitionen entsteht da ein tonales Klangbild, das in Rückkoppelung tatsächlich etwas von der direkten Wirkung der einstigen Weill`schen Volksopern-Idee ahnen lässt. Zitatfetzen und Adaptionen, am großflächigsten akustische Schemen aus den „Sieben Todsünden der Kleinbürger“, sind mit plakativen Instrumental-Akzenten und vokaler Bravour verbunden und zum eigenständigen Klangbild verdichtet. Nur manchmal, wenn sich Text und Musik allzu direkt gegenseitig bestätigen, aus dem Orchester also genau das erklingt, was auf der Bühne soeben mitgeteilt wird, gerät das System in den Leerlauf-Modus.
Für seine Inszenierung hat sich Bruno Berger-Gorski von Thomas Dörfler für die acht Sänger in 18 Rollen einen offenen Behandlungsraum mit Matratzen und Elektronik bauen lassen. Ein Videoschaufenster simuliert den Ausblick auf den Strand von Tel Aviv, doch die bunte Illustrations-Idylle muss den schwarzweißen Schatten der Erinnerung weichen. Da möchte der Regisseur, wenn er Totenschädel-Spaliere und Luftangriffe im Wochenschau-Format zeigt, die weißgeschminkten Geister der auferstandenen Kinder (sehr anrührend: Philipp Pützold und Carl Schreiber vom jungenChor der Musikschule Nürnberg) neben realistische Fluchtszenen stellt, alle Grenzen zwischen Dokumentation und Assoziation verwischen. Doch die uneingeschränkte Qualität seiner Arbeit liegt eher in der diskret genauen Führung der Personen, die sich auf offener Bühne nach sicherndem Blick ins Tagebuch verwandeln. Da kann er auf ein geradezu ideal gecastetes Ensemble bauen. Uta Christina Georg (Tochter) und Till von Orlowsky (Vater), da an der Spitze für alle zu nennen, erfassen schauspielerisch feinfühlig die gebrochenen Charaktere und werfen sich vorbehaltlos auf die Angebote der emotional offensiveren Komposition.
„Endlich Frieden“ sind die letzten Worte des spannenden, bannenden Abends. Die Tochter, die den verbitterten Vater erst nach seinem Tod verstehen konnte, sagt „Jetzt lerne ich zu vergeben und zu vermissen“. Es ist die Bühnenfigur, aber natürlich auch die Komponistin von „Baruchs Schweigen“, die für sich das hoffnungslose „Der Himmel ist leer“ längst umgewidmet hat in „Der Himmel ist voll Musik“. Sie wurde am Ende der Premiere mit dem Ensemble (und auch von ihm) gefeiert. Ein denkwürdiger Abend im Fürther Theater.