Foto: Ensemble © Jesús Vallinas
Text:Dieter Stoll, am 9. Dezember 2017
Die neue Uraufführung von Goyo Montero am Staatstheater Nürnberg: „Dürer’s Dog“
Der unerwartete Blickkontakt mit einer forschend guckenden Randfigur aus Albrecht Dürers „Geißelung Christi“-Kupferstich der „Passion“-Serie und deren diskrete Wiederkehr in etlichen anderen Werken des Maler-Genies hat den Nürnberger Ballettchef Goyo Montero so fasziniert, dass er dieser vierbeinig kuscheligen Irritation den Titel seiner neuesten großen Opernhaus-Uraufführung samt apartem Apostroph-Überfluss reservierte: „Dürer’s Dog“. Fürwahr ein Top Dog, dem Daniel Hess, der für die Theorie zuständige Dürer-Fachberater vom benachbarten Germanischen Nationalmuseum, gerne ein Anekdoten-Körbchen zugewiesen hat. Doch auf der Suche nach der Kunst im Allgemeinen ist dieses Tanzstück bei der Beschäftigung mit dem Besonderen trotzdem nicht auf den Hund gekommen. Erst im letzten Moment, knapp vor dem szenischen Blackout, taucht der vermutete Trost- und Trainingspartner mit der feuchten Schnauze für ein paar Sekunden auf – diskret im Kreise des Ensembles steht er da, und über seinen Blick aufs Publikum des Premieren-Abos muss wohl noch geforscht werden.
Vor sieben Jahren hatte Goyo Montero schon seinem spanischen Landsmann, dem ebenfalls eher im Museum als auf der Bühne vermuteten Francisco de Goya, mit einem Tanztheater-Stück aus dem kleineren Rahmen geholfen. Aber da herrschte im „Traum der Vernunft“ eine von biografischen Gewissheiten umstellte Dramatik. Nun, am Ende des ersten Jahrzehnts der bereits von der nächsten Intendanz weitergebuchten Nürnberger Montero-Compagnie, ging es um die Mobilisierung der Wahlheimatgefühle, die Huldigung des fränkischen Großkünstlers, dem so vielzitiert meistgeliebten „Sohn der Stadt“, von dem die Nachfahren immer gern mehr Originale hätten. Dieser Abend ist eins, könnte man sagen. Das originale, originell umgesetzte Ergebnis einer Inspiration, die beim geführten Rundgang durch die Museums-Schau „Der frühe Dürer“ anno 2012 begann. Neue, assoziative Bewegung in der Rezeption von „AD“ – zehn Jahre vor seinem 500.Todestag und, auch das, drei Jahre nach Antritt seiner unfreiwilligen Flughafen-Patenschaft für den PR-bedürftigen „Airport Albrecht Dürer“. Die weit ausholende Montero-Adaption, die sichtlich fasziniert ist vom Inszenierung-Talent des Traumbildners, vor allem aber dessen magische Fantasie wie Treibstoff für die eigene choreographische Sprache zu inhalieren scheint, umkreist „Dürer’s Dog“ und legt sich dabei selber an die sehr lange Leine.
Zu Beginn schwebt aus dem Bühnenhimmel zu sphärischen Klängen ein transparenter Kubus mit Pilot aufs wimmelnde, für Verführung bereitstehende Volk herab. Rätselhaft prophetische Erscheinung, die da aus dem All (aus dem Himmel, aus dem Labor, aus dem Gefängnis?) mit Paukenschlag für Orientierung sorgt. Der Solist Oscar Alonso, dunkel in Gedanken und Trikot, der sich viel später vom auserwählten Mediator der Wahrnehmungen in doppelter Stellvertreter-Funktion für Maler und Choreograph zum aktiven Kunst-Mitwirkenden buchstäblich häutet, durchbricht seine Isolation, zerlegt den Würfel-Kubus. Die visuelle Energie fährt wie ein Stromstoß in den Tanz. Ballonseide bläht sich als Himmel auf, fließende Vorhänge durchwehen teilend die Räume, die Farbwelten Dürers fluten in Disco-Portionen oder Schaumwellen über alles hinweg.
Vom hundefreundlichen Menschen Dürer selbst erzählt Montero faktisch nichts, er will ihm ganz konzentriert über seine Kunst näher kommen und sie weiterführen. Dafür hat er eine Szenenfolge mit neun Kapiteln gebaut, die Titel der gewählten Werke genannt (unerschrocken auch Blockbuster wie „Adam und Eva“ und „Ritter, Tod und Teufel“) und mit Hilfe von Video-Künstler Frieder Weiss und Licht-Designer Olaf Lundt schemenhafte Ahnungen davon wie Basismaterial projiziert. Dazu kommen herbeizitierte Requisiten wie die große Kugel, auf der die ewig gefährdete Balance ihr trügerisches Fundament bekommt. Die Choreographie, die den Kontrast von elegischer Melancholie und stürmischer Gruppendynamik in den besten Szenen wie im Schwebezustand auskostet (dabei die Compagnie als Kollektiv zu neuen Höchstleistungen führt), wunderbare Pas-de-deux-Andeutungen platziert und den Eindruck von Eindeutigkeit meistens noch grade rechtzeitig verwischt, kämpft um die eigene Positionierung. Wo Montero zu nah an Dürers Originale gerät, also wie beim pantomimischen Paradies eher Abbilder produziert als Bilder imaginiert, versengt sich der Tanz die Flügel. Da denkt man, bei aller akzeptierten Ernsthaftigkeit des Projekts, kurz an den befreienden Humor der Dürer-Hommage von Maler Toni Burghart, der einst das eitle Selbstbildnis des lockigen Albrecht mit den Schlappohren seines Terriers überblendete. Solcher Leichtsinn ist bei Montero verboten.
Der Komponist Owen Belton, inzwischen ein Dauerpartner, hat für die begleitende Staatsphilharmonie eine deutlich über Soundtrack-Begleitung hinaus zielende Partitur als Collage von Reizmomenten geschrieben. Ihre pointierte Dramatik ist verwoben mit einem Satz aus Krzysztof Pendereckis Sinfonie Nr. 3, der für „Überwältigung“ steht, aber auch mit Max Richters Vivaldi-Bearbeitung – was mit dem Sturm der „Jahreszeiten“ die Dynamik garantiert, deren Effekten kein Zuhörer, kein Publikum und eben auch weit und breit kein Choreograph widerstehen kann. Dirigent Guido Johannes Rumstadt bringt den Kontrast-Klang so selbstverständlich als Vielfalt ein, dass ihm die Ballettfreunde besonderen Beifall gönnen.
Der Jubel gehört aber der immer noch besser werdenden, glänzenden Compagnie, die ihr Meister, der das ganze Projekt der Dürer-Reflexionen als „meine eigene Suche“ beschreibt, am Ende zu Robotern mutieren lässt. Ohne Depression kein Aufschwung – die nächste Erweckung kommt bestimmt.