Foto: Die Compagnie des Sommertheaters im Hermannshof in „Der Kirschgarten (von Völksen)“ © Michael Laages
Text:Michael Laages, am 29. Juli 2023
Derzeit verhandeln viele Theater die Klimakrise unter anderem indem sie Tschechows „Der Kirschgarten“ auf den Spielplan heben. Auch auf dem historischen Hermannshof in Völksen am Deister gibt es das ökologische Manifest. Der Klassiker scheint wie geschaffen für diesen einzigartigen Ort.
Authentischer geht’s ja kaum. Denn zwar ist der Hermannshof, das Landgut in Völksen, 20 Kilometer von Hannover entfernt und an der Landstraßen-Querung des Deister-Höhenzuges bei Springe gelegen, nicht wirklich ein Kirschgarten, wie ihn Anton Tschechow vor 120 Jahren als virtuellen Hauptdarsteller in sein letztes Theaterstück vor dem Sterben stellte – aber eine grandiose Streuobst-Wiese hat das Stückchen Land schon zu bieten. In dieser Gartenlandschaft hat das hannoversche Theaterkollektiv „Die Compagnie“ Tschechows derzeit aus naheliegenden Gründen sehr viel gespielten Klassiker um die fortschreitende Vernichtung der Natur durch den Menschen angesiedelt. Und wann hat das Stück wohl jemals derart nachdrücklich wirken können – fast ohne Bühne und theatralische Illusion?
Über das Verhältnis zur Natur
Die Inszenierung von Serkan Salihoglu beginnt mit jenem Ereignis, von dem Tschechow tatsächlich nur erzählen lässt im dritten „Kirschgarten“-Akt: der Versteigerung, der Verkauf und Abholzung des Naturdenkmals vorausgeht; beziehungsweise bei der Vorbereitung dieser Versteigerung. Fünf Parzellen sind als Versteigerungsobjekte ausgewiesen auf dem Landgut, das sich der hannoversche Möbelfabrikant Hermann Rexhausen vor etwas mehr als 100 Jahren vom Worpswede-Künstler Bernhard Hoetger einrichten ließ. Schilder sind aufgestellt mit der Beschreibung und dem jeweiligen Einstiegspreis für den Erwerb des Stückchens Lands, auf dem irgendwann moderne Eigenheim-Neubauten stehen könnten … wie seit langem schon in der südlichen Nachbarschaft vom Hermannshof.
Dazu referieren die Mitglieder des Compagnie-Ensembles aber vor allem über die Vernichtungsenergie, die die Umwidmung mit sich brächte – Dennis Pörtner erklärt die Wechselwirkungen von Kaufen und Besitzen. Michaela Winterstein sitzt im Tee-Häuschen (das einst der erste kleine Bau war in Rexhausens Garten) und blättert in begeisterten Berichten von Besuchen hier. Andreas Sigrist philosophiert über die befreiende Energie, die der Mensch als Gärtner entwickelt. Andrea Casabianchi klärt auf über die ökologische Bedeutung einer Streuobst-Wiese. Elisabeth Hoppe erinnert als Frau Rexhausen persönlich an die Geschichte der Fabrikanten-Familie. Ganz zu Beginn hat Rainer Frank (in Tschechows Rolle des modernen Tourismus- und Neubau-Strategen Lopachin) die Versteigerung eröffnet.
Das ist ein hinreißender Beginn.
Theater mit einem Trecker
Dann folgt der erste Tschechow-Akt: auf der Veranda von Rexhausens Gutshaus, gestaltet von Hoetger im „Harzer Stil“. Gespickt ist das Spiel mit Anspielungen auf Zugfahrten und das Wetter (überraschenderweise gut bei der Premiere!), vor allem aber mit offensichtlichen Parallelen zwischen Naturzerstörung damals und heute. Das Stück ist ja nur ein paar Jahre älter als Rexhausens Hermannshof … Dann wandert das Publikum mit zu einer malerisch in sich selbst verschlungenen Baumwurzel – in Tschechows zweitem Akt breitet speziell Student Petja Trofimow die damals wie heute aktuellen Öko-Analysen aus: ganz im Sinnevom Untertitel der Inszenierung: #FürDiesesVerdammteStückErde.
Im dritten Akt feiert Gutbesitzerin Ranewskaja ein Gartenfest. Bruder Gajew ist als Sänger und Gitarrist dabei, Student Petja spielt Bass, Diener Jascha Schlagzeug … Eckart Liss, Leiter des Kultur- und Bildungsprojekes Hermannshof, stößt als Flötist hinzu. Aber während wir mit der Ranewskaja, Tochter Warja und dem uralten Diener Firs feiern, ist der Kirschgarten gerade verkauft worden. Käufer Lopachin führt nun das Publikum durch das schöne Gutshaus hindurch auf dessen Rückseite – hier rollt dann erst der Trecker an (der auf allen Hermannshof-Produktionen bisher mitgespielt hat!), um die Mitglieder der abreisenden Familie aufzuladen. Dann rauscht tatsächlich das Baufahrzeug für den nun beginnenden Abriss herein, mit Regisseur Salihoglu am Steuer …
Ganz nah am Leben in Völksen
Mit diesem massiven Realismus, „site specific“ und nur hier auf dem Hermannshof so zu realisieren, spielt die Inszenierung etwas über zwei pausenlose Stunden lang einen unschätzbaren Trumpf aus. Selten wird einem Publikum die Geschichte vom Kirschgarten derart unter die Haut gegangen sein, auch dank des Chores von Völksenerinnen und Völksenern, die immer wieder die Übergänge von Akt zu Akt markieren – und sich natürlich auch über die einst, zur Expo in Hannover, vierspurig ausgebaute Bundesstraße 217 nach Hameln und deren Verkehrslärm beklagen. Öko-Jammer kann auch arg eindimensional sein.
Die Authentizität des Ortes bringt allerdings auch – und mit zunehmender Spieldauer immer deutlicher spürbar – ein Problem mit sich: Tschechows psychologisch und sozial grundierte Beziehungsgeflechte des Kirschgarten-Personals nämlich geraten deutlich ins Hintertreffen. Was die Menschen im Stück innerlich bewegt, ist immer weniger interessant, wo wir (das Publikum) uns ja eigentlich die ganze Zeit über mit Gedanken zum Überleben der Natur herumschlagen; und damit zum eigenen Überleben im Einklang mit ihr.
Theater an einem einzigartigen Ort
Immerhin bleibt die komplexe Struktur des Vernichters (und modernen Zukunftsgestalters!) Lopachin präsent – der verehrte einst als armes Bauern- und Leibeigenen-Kind die Gutbesitzerin als „Herrin“, und nun tritt er de-ren Stelle an: als Besitzer, also Herr über das Gut und mit der Lizenz, es auch zu zerstören für den ei-genen Profit – weil er es „sich leisten“ kann. Diese Figur bleibt zentral, weil beispielhaft modern in Tschechows finstrer Vision.
Viele im Compagnie-Ensemble sind an den Theatern in Hannover und Oberhausen bekannt geworden, Schlagzeuger Martin Engelbach an beiden Häusern. Rainer Frank war einst Mitbegründer vom Theaterhaus in Jena. Elisabeth Hoppe als Ranewskaja und Andrea Casabianchi als deren Tochter Warja, Andreas Sigrist als Schwadroneur Gajew und Dennis Pörtner als naturbewusster Petja Trofimow sowie Michaela Winterstein als wackeliger Firs bilden jetzt eine prächtige Truppe. Das Schlussbild mit dem aus Versehen vergessenen Bediensteten berührt sehr – im ersten Stock des Guthauses hockt da der/die alte Firs bei Kerzenschein; mit Tschechows traurig-schönen letzten Worten.
Während allerorten die großen, teuren Festivals losgebrochen sind, markiert „Der Kirschgarten von Völksen“ etwas ganz anderes – den alltäglichen Zauber des Theaters an einem Ort, der einzigartig ist; und wie geschaffen gerade für dieses Stück: dem Hermannshof in Völksen. Also nichts wie hin.