Foto: Szene mit Laura Lippmann und Sebastian Haase © Ilja Mess
Text:Manfred Jahnke, am 8. Oktober 2016
Das Theater Konstanz ist immer für eine Überraschung gut. Wie jetzt bei dem Klassiker „Onkel Wanja“. Nicht nur, dass es gelungen ist, den amerikanischen Regisseur und auch hierzulande mit Stücken wie „Das Maß der letzten Dinge“ oder „Bash“ bekannten Autor an den Bodensee zu holen, sondern die Aufführung selbst beginnt mit einem Überraschungscoup: Auf dem eisernen Vorhang ist zu lesen: Sommer 1968. Wenn dieser sich dann rasselnd hebt, begrenzt ein mit einem Birkenwald bemalter Vorhang die Bühne nach hinten, Podeste kreisen den Raum ein und alte Gartenmöbel, mit Plastikstreifen bezogen. Auf einer solchen Liege schläft Wanja. Wie die Möbel – für den Innenraum sind es dann schäbige Holzmöbel – signalisieren auch die Kostüme wie die Musik die 60er Jahre. Nicht zufällig schenkt Astrow dem Wanja eine Beatlesplatte. LaBute geht aber in seiner Historisierung noch einen Schritt weiter: die Handlung spielt zur Zeit des Prager Frühlings und den beginnenden Studentenbewegungen in Europa, in der die Sehnsucht nach Freiheit, nach eigener Verwirklichung eine immer wichtigere Bedeutung erhält. In diesem Kontext bekommen die Sehnsuchtspassagen vor allen Dingen der Sonja eine ungeahnte doppelte Dimension: Der Versuch, der Öde des Alltags zu entkommen, wird zugleich als Entrinnen aus der Einsamkeit begriffen und diese wiederum zum Symbol sexueller Befreiung. So muss unter diesen Umständen Jelena, die junge Frau des alten Professors, auf diese einsamen Männer wie eine Sexikone oder, wie es einmal im Text heißt: „Hexe“ wirken. Immer übergriffiger werden da im Verlaufe des Stücks die körperlichen Gesten der Männer.
Natalie Hünig als Jelena provoziert mit Sonnenbrille und knappen Outfit die Projektionen der Männer, verliert zum Ende im Spiel der Langweile auch die Kontrolle über ihre Gefühle und kann daher nur auf die Flucht in die Stadt (hier Prag statt Charkow) drängen. Dennoch – und das arbeitet die Inszenierung genau heraus – klafft Wirklichkeit und Projektion auseinander, ist die Rolle der Jelena spröde angelegt. Auch die Sonja der Laura Lippman, verliebt in den Arzt Astrow, übt sich in sexuellen Posen, dabei immer naiv und durch das Stück wie ein Wonnebrocken agierend. Erst gegen Ende wird die Verzweiflung deutlich, die hinter der Fassade des freundlichen Lächelns steckt. Sie träumt von Schönheit und Erhabenheit des Menschen, ohne aus Erfahrung wissen zu können, was das ist. Während der Professor von Ralf Beckord eher als klassischer Rheuma kranker Bonvivant angelegt ist, entwickelt Sebastian Haase ein eigenwilliges Bild von seiner Rolle als Wanja, einer, der von Anbeginn mit dem Bewusstsein seines ungelebten Lebens mit hilflos aggressiven Gesten ausagiert, Wodka säuft, in nüchternen Momenten zwischen Schuld und Scham depressiv pendelt, um im nächsten Augenblick wieder in Gewaltgesten auszubrechen, eine tickende Zeitbombe. Mit genauen Gesten erspielt sich Haase diese Rolle. Thomas Fritz Jung als Arzt Astrow entfaltet ein ebenso gewalttätiges Potential, überraschend, wie oft hier die Spieler in körperliche Clinche geraten, bei denen dann der „Streuselkuchen“ des Arlen Konietz hilflos daneben steht.
Doch trotz aller gewalttätigen Momente ungelebter Leben entwickelt die Inszenierung von LaBute auf der Grundlage der Übersetzung von Elina Finkel auch komische Momente mit teilweise slapstickhaften Momenten. Wenn die Regie des Amerikaners im von Regina Fraas geschaffenen Raum auch sich sehr stark auf die Konzeption „Sommer 1968“ und die Schauspielerführung konzentriert, arbeitet er auch mit starken symbolischen Effekten– z.B. im letzten Akt ist der Birkenwald verschwunden, stattdessen beherrschen Baumsstümpfe das Bild -, mit Licht, Tönen und Musik, fast immer Beatlessongs, eingespielt oder live. Ganz am Ende dann noch ein Theatercoup, schockierend, aber ganz im Sinne der Figurenführung: Da wirft sich Onkel Wanja auf Sonja und versucht sie zu vergewaltigen. Während der eiserne Vorhang sich senkt, schreit sie um Hilfe, dazu überlaut „Revolution!“ von den Beatles. Die Bühne bleibt leer. Ist es das, was vom „Sommer 1968“ geblieben ist?