Foto: Emilia Haag, Walter Gontermann und Ursula Michaelis (v.l.n.r.) in „About us“ © Flavia Schwedler
Text:Bettina Weber, am 5. September 2022
Walter Gontermann legt sich langsam auf die Seite, den Kopf auf einen alten Schlitten gebettet, der Körper in den Papierschnipsel-Schnee, der die Bühne bedeckt. So habe er sich als kleiner Junge in einem kalten Winter nachts auf ein Feld gelegt, auf der Suche nach dem im Krieg gefallenen Vater. Der Schauspieler Walter Gontermann spielt an diesem Abend sich selbst, genau wie seine beiden Kolleginnen Emilia Haag und Ursula Michelis. Drei Schauspieler:innen, drei Leben: zwei „alte“ Menschen, eine junge Frau, die auf wegweisende Erlebnisse in ihrem Leben zurückblicken. Zusammen mit dem Regisseur Rüdiger Pape und dem Musiker Raimund Groß, der die Inszenierung mit Livemusik begleitet, haben sie im Rahmen des Recherche-Theaterprojekts „About Us – Wir sind Geschichte(n)“ des Ensemble7, das mit der Produktion am Urania Theater in Köln zu Gast ist, etwas auf den ersten Blick Banales geschaffen: einen Theaterabend über das Leben.
Stolpersteine der Biografien
Über viele Monate hinweg haben sie immer wieder stundenlang am Küchentisch gesessen, ihre Lebensgeschichten ausgepackt – und dann beschlossen, ein Stück für die Bühne daraus zu schaffen. Entstanden ist ein wahrlich berührendes Theatererlebnis, das auf scheinbar wundersame Weise eine Verbindung zwischen den Darsteller:innen und dem Publikum herstellt. Die Episoden, von denen die noch junge Emilia Haag und die beiden älteren Schauspieler:innen Ursula Michelis und Walter Gontermann erzählen, sind bewegend – es geht um Kindheitserinnerungen, manchmal schön, manchmal brutal; um Erfahrungen mit dem Tod geliebter Menschen, um Stolpersteine der eigene Biografie. Von zahlreichen Umzügen in ihrer Kindheit zum Beispiel berichtet Emilia Haag, dabei ein Zelt über die Bühne tragend, von der Sterbebegleitung eines alten Freundes in der Schweiz erzählt Walter Gontermann, und Ursula Michaelis blickt zurück unter anderem auf die eigene Kindheit im Wechsel zwischen Pflege- und leiblichen Eltern.
Ein „Wir”-Gefühl
Rüdiger Pape lässt sie mal selbst erzählen, mal Rollen nachspielen, mal vom Band sprechen. Manchmal sitzen alle drei nebeneinander auf der Bank, dann wieder graben sie Erinnerungsstücke aus dem Papierschnipsel-Schnee (Bühne/Kostüme: Flavia Schwedler). Dabei hat das Team eine gleichermaßen schlichte wie poetische Sprache für die Geschichten gefunden. Die Musik von Raimund Groß, der unter anderem ein Xylophon und ein offenkundig selbst gebautes Streichinstrument bedient, aber auch zur Gitarre und zu elektronischem Sound greift, gleicht einer Art Hörspielkulisse; sie verstärkt das Spiel, ohne es zu dominieren, ist aber auch vielmehr als nur ein „Hintergrund“. Die Schauspieler:innen, sie wirken bisweilen bewegt, aber immer spielerisch distanziert, zeigen jeden Moment mit schier unglaublicher Energie. Vor allem aber werfen sie wirklich etwas in die Waagschale, geben Persönliches preis – und laden damit auf herrlich unaufdringliche Weise die Zuschauer:innen dazu ein, nicht nur in ihre Leben einzutauchen, sondern den Blick auch auf die eigene Biografie zu werfen. Dabei wird der Abend, obschon ein bisschen Nostalgie natürlich nicht ausbleibt, nie kitschig. Es sind die konkreten Geschichten, die Anknüpfungspunkte schaffen. Wir, das Publikum – das sich nach einem sichtlich bewegten, langen Schlussapplaus ein bisschen wie eine Wir-Gemeinschaft anfühlt – sehen hier kein l’art pour l’art, sondern ein Theater der offenen Arme, eines, das zu Diskussionen, Erzählungen und Erinnerungen einlädt. Das ist, zumal nach über zwei Pandemiejahren und angesichts der allgegenwärtigen Publikumsverluste am Theater, mehr als nur eine gute Idee.