Text:Wolfgang Behrens, am 20. Juni 2013
Seit gut fünf Jahren tourt Herbert Fritsch nun als Regisseur durch deutsche Lande und nimmt Kinder-Rache an des Daseins tiefem Ernst. Er zielte dabei auch schon in die Mitte des bürgerlichen Repertoires und attackierte etwa „Nora“ oder kürzlich – allerdings als Oper – die „Drei Schwestern“ mit seiner artifiziellen Kolossalkomik. Doch ursprünglich ging Fritschs Humor-Feldzug von einer an subventionierten Bühnen im Grunde verachteten Gattung aus: von der Posse. „Das Haus in Montevideo“, „Der Raub der Sabinerinnen“, „Die spanische Fliege“ – Fritsch rehabilitierte diese Stücke, indem er ihren Auftrag zur konsequenten Sinnfreiheit ernstnahm und mit einer Überdosis Slapstick ins Jenseits von Gut und Böse beförderte.
Seit dieser Spielzeit hat Fritsch eine ähnlich vernachlässigte Gattung in seinen Kosmos eingemeindet: die Operette. Deren französischer Spielart ist er in Gestalt von Offenbachs „Banditen“ am Theater Bremen bereits im Oktober mit virtuoser Anarchie auf den Leib gerückt. Nun ist – an Frank Castorfs Volksbühne – die etwas plattere Berliner Variante der Operette an der Reihe, namentlich „Frau Luna“ von Paul Lincke. Und es kommt, wie es kommen musste: Die Geschichte dreier proletarischer Berliner, die eine Ballonfahrt zum Mond wagen und dort in allerlei Liebeshändel verwickelt werden, zündet in Fritschs Inszenierung wie eine Rakete. Wenn auch – nach merklichen Anlaufschwierigkeiten – in mehreren Stufen.
In den irdischen Regionen des Operetten-Anfangs scheint Fritschs Dauer-Slapstick erst einmal nicht recht zu verfangen: Zumal die elektronische Verstärkung der Stimmen mitunter in übermäßigem Hall absäuft (ein Problem, das die Aufführung bei der Premiere leider nie ganz loswurde) – und damit auch einen Gutteil der Pointen ertränkt. Guter Witz braucht halt Trockenheit, auch im Akustischen. Doch spätestens mit dem Eintritt in die Mondsphäre hebt die Inszenierung ab, nicht zuletzt visuell. Fritsch hat die Mondscheibe bei ansonsten leerer Bühne einfach auf den Boden gelegt, wo sie nun munter als Drehbühne dient – und immer wieder wunderbar ausgeleuchtet wird (Licht: Torsten König). Auf dieser Scheibe tummelt sich ein so bizarres wie pittoreskes Mondvölkchen, das mit Steppschuhen, Fahrrädern, Taschenlampen und Kostümen (von Victoria Behr), die zum Teil aus Badezimmer-Vorlegern gefertigt sein könnten, herrlich albern erdachte Choreographien hinlegt. Wenn später der fein kokettierende Koloratursopran Ruth Rosenfeld als Mondgöttin diese ganze Szenerie mit gigantischer gelber Schleppe schwebend unter sich begräbt, dann ist der optische Rausch vollkommen. Dass Fritsch so dem revueartigen Geist der „Frau Luna“ sehr nahekommt, muss kaum eigens betont werden.
Anders als noch in der „Spanischen Fliege“ (mit Sophie Rois und Wolfram Koch) setzt Fritsch diesmal auf keinerlei Stars. Auf seiner Tour durchs Stadttheater hat er mittlerweile eine ganze Reihe von Darstellern gesammelt, die sich besonders gut zu seiner Art der Körperkomik entfesseln lassen: Und so sieht man nun in Berlin Jakob Kraze und Florian Anderer aus Schwerin, Nora Buzalka und Annika Meier aus Oberhausen, Jonas Hien aus Halle bzw. Magdeburg und Hubert Wild aus Bremen. Es ist so auch ein Fest fürs Stadttheater, dessen Spieler hier mühelos an der großen Berliner Bühne bestehen. Vor allem der parodistisch falsettierende Bariton Hubert Wild, der als Prinz Sternschnuppe den selbstmitleidig wissenden, den zutiefst angewiderten und gequälten Star markiert, gibt sich so, als hätte er nie woanders gestanden und wäre schon immer der Berliner Publikumsliebling gewesen.
Das markanteste Signet erhält die Volksbühnen-„Luna“ aber vielleicht gar nicht von der Artistik der Fritsch-Darsteller, sondern vom dreiköpfigen „Luna-Orchester“, angeführt von Ingo Günther. An drei Synthesizern tauchen sie Linckes Melodien in ein Meer aus elektronischen Tönen: vom Disco-Drumcomputer über Science-Fiction-Sounds der 70er und 80er-Jahre bis hin zu heutigen Club-Klängen reicht das. Im Verbund mit all dem Hüpfen, Schlottern, Fallen und Klamauken wischen diese Soundscapes auch noch den letzten Rest von Gemütlichkeit aus der Vorlage. Mag sein, dass Lincke im Grabe rotiert. Die Berliner Operette aber ist gerettet.