Foto: Spielmutiges Schauspielensemble: der diesjährige Abschlussjahrgang der Bayerischen Theaterakademie © Bayerische Theaterakademie August Everding
Text:Klaus Kalchschmid, am 17. April 2020
Dinosaurier müssen aus dem Vorgarten vertrieben und das Mammut gemolken werden; der Vater erfindet gerade das Rad und sammelt die Buchstaben für das Alphabet, derweilen die Familie mitten im August ihre Bücher („Alles außer Shakespeare!“) und das gesamte Mobiliar verbrennt, um das Haus notdürftig zu heizen, und ein Streit ausbricht, ob man in dieser neuen Eiszeit Flüchtende aufnehmen soll oder nicht: Thornton Wilders „Wir sind noch einmal davon gekommen“ von 1942 ist ein Stück apokalyptisch-absurdes Theater, in der unter anderen Menschen von heute Adam und Eva ebenso wie ihren Sohn Kain spielen. Eine Aufführung des mitten im zweiten Weltkrieg geschriebenen Dreiakters wäre auf der Bühne des Akademietheaters nach drei Jahren Studium das Abschlussprojekt der Schauspielklasse gewesen. Doch alles kam anders und der 11. März 2020, an dem die Proben hätten beginnen sollen, wird einmal als der Tag in Erinnerung bleiben, an dem es in München zum letzten Mal für viele Wochen, ja vielleicht Monate Liveaufführungen von Theater und Oper gab. So wurden gerade auch die Opernfestspiele der Bayerischen Staatsoper im Juni und Juli abgesagt.
Doch schnell hatte Regisseur Marcel Kohler Vorschläge für Alternativen per Video, und Schauspieler wie Produktionsteam entschieden, dass sie ihr Projekt nicht einfach sterben, sondern unter den nun einzig möglichen, nämlich virtuellen Bedingungen zu neuem Leben erwecken wollten. Am Ende stand eine einstündige Video-Konferenz-Inszenierung mit neun Schauspielerinnen und Schauspielern, die einen Bildschirm paritätisch und symmetrisch oder auch abwechselnd füllen können, und die Erkenntnis: „Theater war noch nie so einfach. Und noch nie so schwer zugleich“, und wie Dramaturg Peter Sampel auf der Website der Theaterakademie weiter schreibt, wurde vieles in den letzten vier Wochen ausprobiert – bis man sich entschied, nur Originaltext Wilders zu verwenden, aber auf den dritten Akt, der in der damaligen Jetztzeit, also dem Krieg spielt, zu verzichten und die akustische von der visuellen Ebene zu trennen.
Diese Trennung und neue Vermischung von Wort, Ton und Bild verwirrt den Zuschauer beziehungsweise Zuhörer zuhause am PC manchmal etwas, nicht zuletzt weil er mal Männer sieht, die wie Frauen singen oder sprechen und umgekehrt. Gleichzeitig ist die perfekte Abmischung der akustischen Ebene (verantwortlich unter anderen: Nils Strunk) ein Genuss für sich, man denke nur an die Jazzversion eines Klavierstücks von Chopin, eine wilde, brillante Sopran-Koloratur Sabinas, des Dienstmädchens, oder an eine durchgängige Erzählerin, die ganz brechtisch Regieanweisungen spricht oder schon mal sagt: „Also ich versteh’ das Stück einfach nicht!“ Der Zuschauer wiederum denkt sich: Diese klaustrophobische Theater-Spiel-Situation ist diesem Stück doch sehr angemessen, ja entstellt es geradezu zur Kenntlichkeit.
Allein sitzen die neun Schauspielerinnen und Schauspieler nun am Tag der geplanten Premiere vor der Kamera des eigenen Laptop und agieren doch mit den anderen Spielern, verteilen sogar Ohrfeigen und legen sich die Hand auf die Schulter – gespielt freilich immer nur von einem. Alle haben sich selbst geschminkt, bewusst plakativ und grell, als wären sie Clowns in einem apokalyptischen Zirkus oder tragen später, als die Flut naht, die starre Maske einer Playmobil-Figur, gebastelt von der Kostümbildnerin Natalie Soroko und per Post an die Schauspieler verschickt. Aydin Aydin, Oscar Bloch, Sebastian Kremkow, Luiza Monteiro, Steffen Recks, Sandra Julia Reils, Tamara Romera Ginés, Fabio Savoldelli und Berit Vander machen ihre Sache großartig – mit viel Selbstironie, aber auch Mut zu (vermeintlicher) Improvisation und zur (charmanten) Hässlichkeit, wenn mit verschmierten Mündern und rollenden Augen grimassiert wird, als wären wir in einem schlechten Stummfilm.
Und so sind diese 60 Minuten für gut 900 Zuseher via YouTube-Kanal der Theaterakademie ein multimedialer Spaß mit doppelt ernstem Hintergrund. Bis auf einen kleinen Running Gag, wenn nach dem häufigen Niesen einer Figur in den übrigen acht Ecken des Bildschirms jeweils hektische Hand-Desinfizierung erfolgt, bleibt jede Anspielung auf die derzeitige Krise aus, denn wie einer neuen Eiszeit zu begegnen ist oder wie man sich vor der Sintflut rettet, reicht als Katastrophen-Potential voll und ganz. „Eine neue Welt muss her“ lautet der letzte Satz, derweilen die Gesichter der Schauspielerinnen und Schauspieler allmählich aus den dunkel werdenden Bildschirmen verschwinden. Ebenso lustig wie gruselig bleiben nur noch ein paar wie Stabpuppen tanzende kleine bunte Dinosaurier-Skelette aus Holz übrig.