Foto: Roberta Pisu (Michael), Russell Lepley (Peter Pan) und Alessio Attanasio (John) © Marie-Laure Briane
Text:Vesna Mlakar, am 4. Mai 2016
Schon im Vorfeld bespielen dunkle Gestalten das glasüberdachte Foyer. In schwarzen Klamotten, die Gesichter vermummt, eröffnen Peter Pans freche Schatten mit Panflöten, Hula-Hoop-Reifen und stummen Interaktionen das Theatergeschehen. Dabei weiß eigentlich noch keiner, wer die faunisch-unheimlichen, kinderfreundlichen Gesellen sind, die hier Neugier für ein Ballettmärchen des Choreografen Emanuele Soavis schüren sollen. Gut 40 Minuten später überzeugt ihr flirrend arrangierter Bühnenauftritt in wohl gestaffelter Multiplikation: Erst treibt einer, dann treiben zwei, schließlich 14 der kaum greifbaren, jederzeit fluchtbereiten Wesen ihren turbulenten Spaß mit und rund um Peter Pan.
Nach seiner erfolgreichen Adaption von „Peter und der Wolf“ 2012 beauftragte das Staatstheater am Gärtnerplatz den in Köln lebenden Italiener Soavis damit, James Matthew Barries 1904 uraufgeführte Geschichte über den Jungen, der niemals erwachsen werden will, für die 20 Mitglieder des Ballettensembles tänzerisch umzusetzen. Eine herausfordernde Aufgabe, die neben viel Einfallsreichtum auch musikalisch eine Neukreation erforderte. Genau der richtige Mann dafür: Film-, Fernseh- und Tanztheaterkomponist Han Otten. Der Niederländer war bereits häufiger Produktionspartner u.a. von Ji?í Kylián – so auch 2009 bei den filmischen Passagen zu dessen Abendfüller „Zugvögel“ für das Bayerische Staatsballett.
Der von vielen Kindern besuchten Premiere im Cuvillés-Theater bescherte Otten eine kaleidoskopische, akustisch-eingängige Soundkulisse, insbesondere für die wilden Kreistänze der Indianer und martialisch aufgelegten Piraten im Gefolge des bösen Kapitän Hook auf der Insel Nimmerland. Seine Kombination aus großem, melodisch eingängigem Orchesterklang und elektronischen, bedrohlich blechernen Überblendungen zitiert je nach szenischem Motiv verschiedene Musikstile und treibt die Tanzsequenzen stets rhythmisch voran.
Soavis ist seit 2006 als freischaffender Choreograf tätig und offenbar selten um Ideen für starke Bilder verlegen. Gemeinsam mit den beiden Ausstattern Karl Fehringer und Judith Leikauf verortet er das gutbürgerliche Londoner Kinderzimmer der drei unermüdlich (und etwas zu lange) über ihre Betten tobenden Darling-Geschwister zwischen schrägen, altmodisch tapezierten Wandmodulen. Bestens im Blick: das große Fenster. Gleich zu Beginn knarzt es im Rahmen verheißungsvoll. Die Flügel klappen auf und Herbstlaub weht herein.
Kein übler Auftakt, dessen Wirkung Soavis jedoch leider verschenkt. Statt so dynamisch in die Erzählung einzusteigen, wie er die Tänzer bewegungstechnisch durch den zweistündigen Abend führt, lässt er erst einmal die treu fürsorglichen Familienhündinnen Nana und Lisa (mit großen Plüschköpfen und kurzen Hausmädchenröcken im neckischen Duett: Patscharaporn Distakul und Vanessa Schield) mit dem Fegen der bunten Blätter Zeit schinden. Das strapaziert Aufmerksamkeit und Geduld.
Endlich schwingen sich mithilfe eines Turnrings zuerst die Fee Tinkerbell (Anna Calvo), dann Hauptprotagonist Russel Lepley als athletisch-liebenswerter Peter Pan durch das Portal. Dass sie auf der Suche nach Peters verschwundenem Schatten sind, muss man entweder bereits wissen bzw. schlussfolgern oder erraten. Viel wichtiger scheint für den Choreografen zu sein, dass der Einbruch in die Welt familiärer Wirklichkeit nicht ohne Folgen bleibt.
Kaum sind Mutter und Vater aus dem Haus, lassen sich Wendy (Sandra Salietti), John (Javier Ubell) und Michael (Matteo Carvone) vom sorglosen Treiben der abenteuerlustigen und des Fliegens mächtigen Besucher anstecken. Und so gelingt es Soavi im zweiten Teil doch noch, den Schleusen der Fantasie freien Lauf zu lassen: In einer fabrikartig-zusammengebastelten Gerüste-Landschaft treffen die Menschenkinder auf Peter Pans verlorene Jungs. Wer wie Wendy einer Taube gleich vom Himmel geschossen wird, den flickt ein Corps aus Elfen wieder zusammen. Die Bühne wird geflutet und im Kampf der Guten gegen die mordlustigen Piraten mächtig viel Wasser aufgewirbelt. Gefahr hat eben ihren Reiz, solange man Tote mit Tricks oder kräftigem Klatschen wieder zum Leben erwecken kann. Die Momente, wo Interpreten und Publikum allerdings wirklich „zusammenkommen“, bleiben rar. Schade, denn allein das choreografisch durch vier Interpreten verkörperte Krokodil, das Kapitän Hook so fürchtet, hätte Potenzial zu einigem mehr …