Foto: Starker emotionaler Schluss: Isolde Blondhaar (Nikki Treurniet) und Ensemble © Bettina Stöß
Text:Andreas Berger, am 20. Juni 2020
Und nochmal Tristan. Aber nicht die x-te Version des äußerlich undramatischen Wagner-Dramas mit seiner musikalisch rauschhaft glühenden Leidenschaft, sondern das „weltliche Oratorium“ – „Le vin herbé (Der Zaubertrank)“ von Frank Martin (1890-1974). Hannovers Staatsoper hat damit für seine Gastspiele im historischen barocken Gartentheater zu Herrenhausen eine spannende Wahl getroffen. Die Corona-Auflagen im Theatern gegenüber besonders skeptischen Niedersachsen werden dabei doppelt erfüllt: Man spielt an frischer Luft und in kleiner Besetzung, denn statt großem Orchester braucht Martin nur Kammerbesetzung mit sieben Streichern und Klavier, die locker unter einem Dach und hinter schwarzer Gaze am Bühnenrand Platz finden. Zwölf Gesangssolisten bilden den Chor, aus dem auch die Hauptfiguren gestellt werden.
Trotzdem erfüllt Martins Musik, was sich die Sänger laut Intendantin Laura Berman in einer Videokonferenz für den Neustart gewünscht haben: „Etwas Romantisch-Melancholisches“ sollte es sein. Und so klingt Martins Partitur, trotz der schlanken Besetzung. Denn der Franko-Schweizer Calvinist versetzt seine Zwölftonreihen so geschickt mit Melos und feiner chromatischer Reibung, dass die Sehnsucht nach der harmonischen Erfüllung stets mitschwingt, ja das Ganze wie eine protestantisch-existentialistische Version Wagners wirkt.
Wagners Figuren dürfen geradezu baden in ihren Gefühlen und so der auf knappe Handlungsmomente reduzierten realen Welt gegenüber ihr Traumreich einer neuen Wirklichkeit und Wesenheit ausbreiten. Martin antwortet dem ewigen Konflikt 1942 mit einer musikalischen Version des verfremdenden epischen Theaters Brechtscher Prägung, das zugleich an die Tradition der antiken Chordramen, geistlichen Oratorien und Mysterienspiele anknüpft. Hier führt der Chor in Pro- und Epilog das Publikum an die Handlung heran – und hält sie damit von ihm fern. Während im Stück ein Erzähler wie der Evangelist sagt, dass Tristan sagt, was er dann singt. Diese Passagen werden meist vom Klavier angetrieben, es entsteht ein motorisch bewegter Sound, der an Weill oder Hindemith erinnert.
Wolfgang Nägeles Inszenierung auf der baum-, hecken- und goldskulpturengesäumten Zentralperspektivbühne betont den Kollektivcharakter des Solistenchors, der völlig gleich gekleidet auftritt, und zwar in Anzug und Hüten, die eher an die Dreigroschenopernzeit erinnern (Kostüme: Irina Spreckelmeyer). Die Sänger legen in solistischer Funktion dann charakteristische Kostümteile an oder ab. Werden zu Tristan im weißen Hemd mit Blutfleck oder Isolde Blondhaar mit der entsprechenden Perücke. Und wenige Requisiten schaffen Atmosphäre.
Da dampft zur erwachenden Leidenschaft zwischen Tristan und Isolde Blondhaar eine Badewanne, aus der sich die Erregte etwas betupft. Das librettogemäße „Liebestrank-Fässchen“ findet so sinnfällige Übertragung. Das coronageschuldete Abstandsgebot wird bei aller Sinnlichkeit gewahrt, wenn Tristan und Isolde auf entfernten Stühlen lustvoll den eigenen Körper befingern. Sie liegen auch auf deutlich getrennten Betten nach ihrer Flucht in den Wald, wo Marke also mit vollem Recht ihre Anständigkeit feststellen und sein Schwert mit dem Tristans vertauschen kann. Unter den dräuenden Gewitterwolken des Premierenabends steigt die Spannung des finalen Unglücks. Nach stimmlich eindrucksvoll gestalteten Monologen verzichten sie aufeinander: Rodrigo Porras Garulo singt den Tristan in angenehmer Lage mit einem männlich-baritonalen Tenor, dem keine protzigen Ausbrüche abverlangt werden. Nikki Treurniet gibt Isolde Blondhaar mit zartem, höhensicherem Sopran. Sie kehrt zu Marke zurück, Tristan heiratet aus Frust Isolde Weißhand. Der Chor weiß anlässlich des Hochzeitsversprechens bereits mehr: „Um dieses Wort fand er den Tod.“
Er holt ihn sich auf dem Schlachtfeld. Auf dem Siechbett gesteht er einem Freund, dass er nur Isolde Blondhaar geliebt habe und er sie wiedersehen wolle – und Isolde Weißhand hört’s heimlich mit. Es ist eine der rührendsten Szenen des Werks. In der Erinnerung führt die Geige wieder einsam aufwärts wie zu Liebestrank-Zeiten. Tristan stirbt, als ihm Isolde Weißhand eifersüchtig meldet, das ausgesandte Schiff komme mit schwarzem Segel, also ohne die Blondhaar. Schön ist die Regieidee, dass Tristan bei seinem langen Sterbeweg ganz ans Bühnenende, dorthin wo in Herrenhausen eine Art Lebensbrunnen quillt, unter den Chorleuten noch einmal der Blondhaar-Sängerin in die Augen sieht. Lilien, Kerzen, ein Greis, der unter großem Streichergestus den Tod verkündet, und ein Chor, der plötzlich vielfältig ausbricht in dem Satz „Tristan ist tot“: Martins Werk entwickelt hier durchaus emotionale Emphase. Es wäre auch ein berührender Schluss. Doch auch Isolde Blondhaar kommt noch, wird ihm hinten am Lebensquell als Jenseitsort von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen wie bei Heiner Müllers Bayreuther Inszenierung „Tristan“ (1993), ohne Berührung und Kuss, von denen der Chor singt. Dies ist ein weiterer starker Schluss.
Aber Martin will noch den Epilog, in dem der Chor das Werk allen Liebenden widmet, die Zuschauer also wieder herausführt aus dem Drama. Nehmt die Parabel mit in eure Gegenwart, lernt daraus. Die Regie hätte die Choristen langsam ins Dunkel tauchen können, Schemen einer Geschichte, die man sich in dunklen Hafenkneipen zuraunt. Nägele wählt Brecht-Aufstellung im Kaltlicht, die Hüte fallen, Abgang. Die Spieler haben ihren Job getan. Geht auch, Nägele hat das epische Theater an sich gut auch sinnlich beglaubigt auf der Gartenbühne. Und Generalmusikdirektor, Stephan Zilias, im Vorgriff auf seinen Amtsantritt zur neuen Saison, dirigiert das exzellente Streichensemble links und die gut harmonierenden Sänger auf der Bühne rechts von sich umsichtig und mit Liebe zum Melos, das Martins unakademische Moderne in karger, aber nicht spröder Klanglichkeit entfaltet.
Man könnte es sich mit barocken Intermezzi à la Pergolesi leichter gemacht haben im barocken Heckentheater, aber sich in dieser Zeit auf existentielle Gefühle zu besinnen, wie es Martin 1942 für nötig hielt, ist bemerkenswert und gut.