Foto: Rupert Markthaler, Silke Evers, Polina Artsis, Daniel Fiolka, Bryan Boyce und Opernchor des Mainfranken Theaters Würzburg © Falk von Traubenberg
Text:Michaela Schneider, am 9. Mai 2016
Für viele Schüler ist er Pflichtlektüre, für die 68er Generation avancierte er zum Kulturoman. Literaturkritiker sehen ihn als Musterbeispiel für autobiographisches Schreiben. Und gleichzeitig besticht Hermann Hesses „Steppenwolf“ aus dem Jahr 1927 durch zeitlose Aktualität. Es geht darin um sinnliche Selbsterfahrung, um Musik und um Tanz. Für Rainer Lewandowski, einstiger Intendant des E.T.A. Hoffmann Theaters in Bamberg, Grund genug, ein Libretto zum Steppenwolf zu verfassen und dieses dem Mainfranken Theater im unterfränkischen Würzburg anzubieten. Der damalige Theaterintendant Herrmann Schneider war begeistert – und fragte den schwedischen Komponisten Viktor Åslund, ob er sich vorstellen könne, dieses zu vertonen. Der frühere erste Kapellmeister des Drei-Sparten-Hauses konnte – jetzt war die Uraufführung des Musiktheaters „Der Steppenwolf“ zu erleben. Das Publikum umjubelte den opulenten Selbsterfahrungstrip mit stehenden Ovationen.
Einem Genre lässt sich „Der Steppenwolf“ von Viktor Åslund kaum zuordnen. Opernelemente begegnen Tanzmusik der 20er Jahre wie dem Shimmy; im Magischen Theater begrüßt mit Rupert Markthaler als Pablo ein Musicalsänger, während die lyrische Sopranistin Silke Evers als Hermine lupenreine Arien liefert; im Graben spielt unter Sebastian Beckedorfs Dirigat das Philharmonische Orchester Würzburg, auf der Bühne eine Jazzcombo. Und Åslund, übrigens sein erstes Musiktheater, lässt sich sehr bewusst auf keine Genre-Schublade einengen – das schuldet er letztlich der literarischen Vorlage.
Harry Haller, Intellektueller und Autor, steckt in einer Schaffens- und Lebenskrise. Er leidet unter seinem bieder-bürgerlichen Leben in der Gesellschaft. Denn in ihm steckt noch eine weitere Persönlichkeit: Der Steppenwolf, der Begierden, Wünsche und Lust weckt, niedergedrückte Sehnsüchte nach einem wilden, erfüllten Leben beschwört. Musik spielt dabei für Harry eine entscheidende Rolle, der brave Bürger ist Mozart und den Spätromantikern verpflichtet. Dann lernt er die anfangs verhasste Tanzmusik und den Jazz der 20er Jahre zu schätzen. Den Selbstfindungstrip des Protagonisten zeichnet Åslund in seiner Komposition nach, bricht mit Gewohntem, wandelt wie selbstverständlich zwischen Oper und Jazz, Arie und Elektronik, scheut nicht vor entfremdeten Zitaten. Zum klassischen Opernstil zu Beginn gesellen sich Stück für Stück neue Elemente. Gleichzeitig eröffnet die kompositorische Grenzenlosigkeit Raum für konträrste Emotionen. Emotionen, wie sie Harry treiben – und wie sie das Publikum mit ihm gemeinsam hörend durchlebt. Sinnliche Erotik begegnet klanglicher Sperrigkeit, wilde Ausgelassenheit trifft auf Luft nehmende Enge, gehetzte Pizzicati machen Harrys Rastlosigkeit hörbar.
Die Musik ist das eine – wie aber lässt sich ein komplexer Stoff wie „Der Steppenwolf“ als Musiktheater erzählen, ohne die literarische Vorlage zu banalisieren? Rainer Lewandowskis Kunstgriff ist clever, er stellt Harry Haller den personifizierten Steppenwolf als ständigen Begleiter an die Seite. Die beiden erzählen, diskutieren, streiten. Mit Hesse-Gedichten im Libretto greift Lewandowski auf Zitate zurück, die dem Autor seinerzeit als Basis für seine Romanausarbeitung dienten – und erreicht dadurch hohe sprachliche Authentizität.
Anna Vita – eigentlich dem Tanztheater verhaftet, ist dies übrigens ihre erste Musiktheater-Regie – ergänzt die emotionale Komposition und die ausdrucksstarke Sprache um opulente Bildgewalt. Das „Magische Theater“, jener Ort, an dem der Eintritt den Verstand kostet, und an dem Realität und Fantasie verschwimmen, ließe sich kaum magisch-sinnlicher abbilden. Etliche Bewegungen der Sänger sind gleichzeitig durchchoreographiert, die Ballettcompagnie tanzt zwischen sinnlicher Romantik und wilder Erotik. Anna Vita zur Seite steht dabei Bühnen- und Kostümbildnerin Verena Hemmerlein, die beim Bühnenbild mit schwebenden Elementen, mit Drehbühne, Licht, Farben, Tüchern arbeitet. Der luftigen Fantasiewelt stellt sie die sehr greifbaren, schillernden Kostüme der 20er Jahre gegenüber. Szenenweise ist es fast schon ein Zuviel an Opulenz, an Eindrücken für alle Sinne – gerade auch, weil dadurch die Musik selbst in den Hintergrund rückt. Aber so geht es nun einmal auch Harry: Wünsche, Ängste, Verführungen, Räusche, Träume, Versuchungen prasseln auf ihn ein auf der Suche nach seiner eigenen Wirklichkeit.
Einen entscheidenden Anteil daran, dass ein großer Teil des Publikums am Ende stehende Ovationen zollt, hat natürlich auch das Bühnenensemble: Allen voran eine großartige Silke Evers als Hermine und gleichermaßen gesanglich wie schauspielerisch Daniel Fiolka als Harry Haller und „Steppenwolf“ Bryan Boyce. Dass nach der Pause wenige Plätze im Mainfranken Theater Würzburg frei bleiben, mag wohl daran liegen, dass es manchem sehr klassisch-orientierten, biederbürgerlichen Theatergänger am Steppenwölfischen fehlt.