Foto: Jele Brückner, Stacyian Jackson (v. li.) © Jörg Brüggemann / Ostkreuz
Text:Martina Jacobi, am 25. Januar 2025
Johan Simons inszeniert am Schauspielhaus Bochum mit „Meine geniale Freundin“ Elena Ferrantes Neapolitanische Saga und Roman-Tetralogie über eine Frauenfreundschaft in einem Italien der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Nah an der Erzähllinie der Entwicklung von Lenú und Lila bleibt die Inszenierung doch distanziert von den Figuren.
Auf der großen Drehbühne stehen zwei alte Holzschreibtische voneinander abgewandt (Bühne: Wolfgang Menardi). Der eine mit Buch- und Schreibmaschinenrequisite, der andere mit säuberlich aufgereihten Lederschuhpaaren. Schon durch dieses Bild erzählt sich die Geschichte von Elena Ferrantes Buchtetralogie, beginnend mit dem ersten Teil „Meine geniale Freundin“, dessen Titel zur abendüberschreibenden Bezeichnung gewählt wurde. Elena Greco (Lenú genannt) wird studieren, nach Florenz gehen, einen Professor heiraten, Schriftstellerin werden. Raffaela Cerullo (Lila gerufen) bleibt in Neapel, wird Arbeiterin in der Fleischfabrik, angelt sich einen reichen Mann, geht Machenschaften mit der Camorra, der Mafia, und der mit ihr verbundenen Familie Solara und deren Schuhgeschäft ein.
Das Setting vermittelt eine deutliche Perspektive auf die Verbindung der beiden in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsenen Neapolitanerinnen und deren Leben in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Rücken an Rücken begegnen sie ihren Lebensherausforderungen. So unterschiedlich sie sind, vermittelt ihr Verhältnis eine beständige Solidarität und Freundschaft.
Ferrantes dichten Stoff mit 21 Figuren stellt Simons mit neun Darsteller:innen in sechs Stunden auf die Bühne. Es gibt drei Teile: Kindheit und Jugend, die Erwachsenenjahre, Reife und Alter; und zwei Pausen mit etwas Verpflegung und italienischen Appetithäppchen. Das Publikum rotiert in drei Gruppen aufgeteilt während des Abends um das Bühnengeschehen, dafür gibt es gekennzeichnete Sitzareale in der linken und rechten Zuschauerraumhälfte und eine im hinteren Teil der Bühne aufgebaute Sitztribüne. So spielen die wie bei Yin und Yang ineinander verschlungenen und gleichzeitig polar dargestellten Leben von Lenú und Lila auf der Drehbühne jeweils auf ein anderes Publikum zu.
Perspektivspiel
Es ist ein einziges großes Perspektivenspiel über die Umwälzungen innerhalb einer Klassengesellschaft, über geplante Revolten und Revolutionen der 68er-Bewegung in Italien und die so unterschiedlichen Anstrengungen Lenús und Lilas, sozial aufzusteigen, sich ein Leben aufzubauen. Das vielleicht wichtigste Erzählmotiv ist der Rione (Stadtteil, Veedel, Kiez), der Lenú und Lila geformt hat und dem sie auch über Distanz nicht entfliehen können – durch ihn geschieht die Identitätsprägung der Protagonistinnen und dort entwickeln sie ihren Willen, diese frei entfalten zu wollen.
Videoinstallationen (Voxi Bärenklau) versetzen die Handlung zu Beginn erstmal in Schwarzweiß zurück in der Zeit, halten dann – jeweils aus der Perspektive der voneinander abgewandten Schreibtische – den Hauptfokus auf den zwei unterschiedlichen Welten der Protagonistinnen, die auf der über der Bühne installierten Leinwand über Distanz hinweg doch miteinander verschmelzen können. Da sind auch viele verschiedene Stühle, kleine Kinderstühle, große, aus Holz oder Plastik, mal sind sie feinsäuberlich aufgereiht über ebenso feinsäuberlichen Bücherstapeln, doch immer wieder kommt die Unordnung über die Bühne, dann dienen die Stühle auch als praktische Requisite für im Zeitrausch der Inszenierung dieser Schnelligkeit folgenden Szenenwechsel.
Erzählrausch
Neben dem Titel, der eine solidarische Verbindung und Zugewandtheit von Lenú und Lila verspricht, erzählt sich diese Zuneigung – wie auch die verschiedenen Liebes- und Familienbeziehungen der beiden – eher durch den erzählerisch gespielten Geschichtsstrang und szenischen Aufbau als durch den primär fühlbaren Ausdruck auf der Bühne. Jele Brückner als Lenú und Stacyian Jackson als Lila geben ihnen aber durchaus charakteristische Profile, mit denen man mitfiebern kann. Trotzdem hangelt sich ihr Leben vornehmlich entlang der sie umgebenden Männer, gespielt von Guy Clemens, William Cooper, Ole Lagerpusch, Oliver Möller und Jakob Schmidt.
Die Figuren um Lenú und Lila gelingen durch rasantes Umziehen auf der Bühne (Kostüm: Katrin Aschendorf) und vielseitiges, eindrückliches in-die-Rollen-schlüpfen, durch Kostüm- und Haltungswechsel aber auch das Verstellen der Stimme, auch die weiteren weiblichen Figuren gespielt von Karin Moog und Abenaa Prempeh. Das ist ein vielfaches Identitätsspiel, symbolisch für Lenús und Lilas persönliche Entwicklung über die Jahre, durch die sie ihren Charakter verfestigen. Trotz Schicksalsschlägen bleiben sie einander und sich selber doch treu.
Innehalten kann das Publikum in diesem Erzählrausch in den Videoeinspielungen, die mal Ausschnitte aus Francis Ford Coppolas „Der Pate“ oder aufgeschnittene und in einer Fleischerei ausblutende Rinder zeigen. Untermalt werden diese mit Musikemulsionen aus beispielsweise Jimmy Hendrix und Johann Sebastian Bach (Soundtrack: Tristan Wulff), wieder eine Gegenüberstellung verschiedener Pole in einer Gesellschaft. Simons Erzählfaden bleibt stringent, das Thema gerade von geschlechtlichen Machtverhältnissen, die bei Ferrante eine sehr große Rolle zu spielen scheinen, rutscht aber in die Karikatur. Dieses stereotype Spiel von männlichen und weiblichen Rollen entlockt dem Publikum einige Lacher. Damit entführt die Regie in eine in sich geschlossene, unterhaltende Ferrante-Romanwelt, die zu den Figuren aber auf Distanz bleibt.